Reflexionen über die sensible und vielfältige Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur gibt es seit der Urgeschichte in Form von Kunst und alltäglichen sowie rituellen Handlungen. Heute prägt diese Thematik natur- und geisteswissenschaftliche Diskurse, zumal wir durch die (Aus-)Nutzung natürlicher Ressourcen mithilfe turbokapitalistischen Wirtschaftswachstums immer weiter an den Rand der Kapazitäten unseres Planeten geraten. Die ungebremste Beschleunigung von Industrie und Wirtschaft seit der industriellen Revolution – höher, weiter, schneller – ignoriert das komplexe Verhältnis von Natur und Mensch und unsere Abhängigkeit von einem begrenzten Lebensraum. Erst die globale Katastrophe des Klimawandels lässt die Verletzlichkeit von Nehmen und Geben evident werden und stellt die Frage nach den Notwendigkeiten für unsere Existenz.
Landwirtschaft, die seit der Sesshaftwerdung im Neolithikum unsere Grundbedürfnisse erfüllt bzw. reglementiert, und Kunst, die die Gesellschaft reflektiert und mit neuen Möglichkeiten konfrontiert, werden bei diesen Überlegungen zu spannungsreichen Bezugsfeldern. Das Projekt OFFENE FELDER – Kunst und Landwirtschaft stellt diese menschlichen Grundbedürfnisse nach körperlicher und geistiger Nahrung in den Vordergrund. Gleichzeitig geht es um geschichtliche, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge, neue Impulse und aktuelle Ansätze. Durch das Zusammentreffen zweier scheinbarer Gegensätze wird Neuem Platz gegeben.
Inspiriert vom neu aufflammenden Interesse an Alexander von Humboldt, im Besonderen an seinem Werk Kosmos und seiner umfassenden Beschreibung des Planeten Erde, konstatieren Bruno Latour und Peter Weibel: „Falls die Tragödie der Covid-19-Pandemie auch nur ein Gutes an sich hat, so ist es die Tatsache, dass sie uns allen schonungslos vor Augen geführt hat, wie wichtig es ist, endlich irgendwo zu ,landen‘, endlich die kritische Zone ernst zu nehmen, die wir gemeinsam mit Viren, Bakterien, Pflanzen und anderen Lebewesen bewohnen.“
(Critical Zones ‒ Die Wissenschaft und Politik des Landens auf der Erde, hg. v. Bruno Latour, Peter Weibel, ZKM/Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, vertrieben von The MIT Press, Cambridge, MA/London, 2021, S. 7)
Der Meteorologe Paul J. Crutzen prägte im Jahr 2000 den Begriff des Anthropozäns als jenen Zeitraum, in dem der Einfluss des Menschen auf die Erde exponentiell wächst und langfristig Spuren hinterlässt. Eng verbunden mit dieser Begriffsbildung ist die Auseinandersetzung mit menschengemachten Veränderungen der Erdoberfläche, wodurch neue Denkansätze einer umfassenden ökologischen Ethik entstehen. So wird im neu einsetzenden Post-Anthropozän diese menschliche Dominanz in ihrer politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder persönlichen Geschichte untersucht und reflektiert und es werden Fragen nach einer lebbaren Zukunft in der kritischen Zone gestellt ‒ jener Schicht, von und auf der wir leben. Diese Fragen betreffen alle Bereiche.
Das Projekt OFFENE FELDER fokussiert auf lokaler Ebene wesentliche Aspekte, nämlich jene der Landwirtschaft in unmittelbarer Begegnung mit Kunst, denn beide sind und liefern Grundnahrungsmittel der Gesellschaft.
Mit Beginn der Sesshaftwerdung setzt der nachhaltige Einfluss des Menschen auf die Erde ein und mit der Landwirtschaft entsteht einer der ältesten Berufe, der eine umfassende Lebenseinstellung bedeutet.
Heute wird etwa ein Drittel der Landfläche der Erde agrarwirtschaftlich genutzt. Anbau und Ernte landwirtschaftlicher Erzeugnisse, Forstwirtschaft, Fischfang, Jagd, Viehzucht, Anbau von Wein, Getreide, Gemüse oder Obst und deren Verarbeitung sowie die Nutzung von Wasserkraft, aber auch Saatzucht und Produktvermarktung sind ebenso deren Bereiche wie die Entwicklung innovativer und neuer Ansätze der Produktion, woraus sich existentielle Schlüsselfragen ergeben.
Denn durch sowohl den Boden als auch den Menschen ausbeutende Entwicklungen, die einzig auf schnelles Wachstum und raschen Gewinn abzielten, gerieten landwirtschaftliches Wissen um Gesamtzusammenhänge und dessen Wertschätzung sukzessive ins Hintertreffen gegenüber globalen Überlegungen und Interessen. Die sukzessive Verlagerung billiger, rücksichtsloser und menschenverachtender unethischer Nahrungsmittelproduktion in andere Länder, das Besetzen Zweiter Welten, die ausgebeutet werden, um vermeintlichen Wohlstand zu generieren, daraus resultierende erzwungene Migration sowie Monokulturen oder Massentierhaltung und -transporte sind Phänomene, die dem Leben selbst widersprechen. Das Bewusstsein, dass es kein permanentes Wachstum geben, nicht willkürlich Raubbau betrieben werden kann, entspricht wertschätzendem landwirtschaftlichem Handeln im klugen und respektvollen Umgang und Wissen über Rückbezüglichkeiten auf und über Reaktionen der Natur und damit unser Über-Leben.
Retardierenden Vorstellungen reaktionärer Hinwendung zu vermeintlicher Geborgenheit des Nationalstaates oder gegenwärtig auftretenden Rückschrittstendenzen in Richtung „Blut und Boden“ entgegenwirkend, geht es im Projekt OFFENE FELDER um das Ausloten von Zusammenhängen, das Verstehen von Bedingungen innerhalb von Spannungsfeldern, die uns alle betreffen: vom Thema der Selbst- und Fremdausbeutung über finanzielle oder Vorschriftsbedingungen, das Spannungsfeld industrieller Massen- und regionaler Kleinproduktion, Überdüngungen und den Wunsch nach ausgeglichener und komplexer Kreisläufe, die Zeit brauchen, bis hin zum Druck von Handelsketten, zu Dumpingpreisen, neuen Formen der Versklavung, Überlebenskämpfen, aber auch zum Bauernsterben. Tatsächlich stehen wir alle vor komplexen Lebens- und Überlebensfragen und Problemfeldern, die in der Landwirtschaft nicht nur exemplarisch, sondern auch existenziell verhandelt werden.
Seit jeher reflektiert Kunst das Geschehen, sie schärft aber nicht nur unseren Blick auf die Gegenwart, sondern auch unser Bewusstsein für Zusammenhänge aus der Geschichte in die Zukunft. Auch Künstler*in zu sein bedeutet nicht im herkömmlichen Sinn, einem Beruf nachzugehen. Vielmehr handelt es sich ebenfalls um eine Lebenseinstellung, die téchnē, epistḗmē und aísthēsis verbindet.
Kollaboration und Auseinandersetzung von Kunst und Landwirtschaft soll somit das Verständnis, dass alles miteinander in Verbindung steht, und neue Arbeiten entstehen lassen. Dabei soll nicht über ein Themenfeld oder ein Problem aus der Distanz zu unmittelbaren Produzent*innen tierischer oder pflanzlicher Erzeugnisse, das Land bewirtschaftenden Akteur*innen zur Erhaltung spezifischer Kulturlandschaften, sondern aus direkter Begegnung, Reibung, in gegenseitigem Respekt mit Bäuerinnen und Bauern und in Reflexion auf sie, aus uns alle betreffenden Fragestellungen heraus gedacht und gearbeitet werden. Anstatt von einer Metaebene herab, können diverse Layer und Schichten gesucht, untersucht, vertikutiert, befragt und thematisiert, neue „Landeanflüge“ gestartet und Felder geöffnet werden.
OFFENE FELDER will nicht nur reale, sondern auch inhaltlich und transdisziplinär neue Regionen des Denkens und Tuns erschließen. Dabei geht es nicht darum, rein theoretisch und auf Abstand zu studieren, sondern darum, einzutauchen, aktiv teilzunehmen, sich auszutauschen, um Prozesse und Dynamiken besser zu verstehen, Geschichte und spezifische lokale, politische, gesellschaftliche Geschichte/n und Realitäten zu erkunden, um neue Ansätze der Koexistenz zu befragen, Zukünftiges zu thematisieren und daraus Arbeiten zu entwickeln.
Elisabeth Fiedler