Um Bernhard Leitners Skulptur zu entdecken, müssen wir einen dieser Waldteile betreten. Bestehend aus acht Espen, die in Form eines Oktogons mit einem Durchmesser von zehn Metern gepflanzt wurden, wächst diese Arbeit im Lauf der Jahre und entwickelt sich schließlich zu einer nach oben hin offenen und begehbaren Kuppel. Erstmals hat Bernhard Leitner hier eine unmittelbar aus und in ihrer Umgebung entstehende Ton-Raum-Skulptur entwickelt.
Große Zusammenhänge wie körperliche Strukturen und deren Bezüge zur Natur, Wahrnehmung und Reflexion, Architektur, Licht, Zeit, Klang, Geschwindigkeit und Bewegung sind Themen, innerhalb derer Bernhard Leitner sein Werk aufspannt.
Das Studium der Architektur dient ihm zwar als Basis räumlichen Denkens und der Entwicklung seiner spezifischen Räume, das Ineinandergreifen von Architektur, Bildhauerei, Grafik, Klang, Choreografie und neuen Medien mit physischer Erfahrbarkeit und Wahrnehmung lässt allerdings eindeutige Kategorisierungen hinter sich. Bezeichnenderweise unterrichtete er auch nahezu zwei Jahrzehnte an der Universität für angewandte Kunst in Wien (Institut für Medienkunst, Klasse für Medienübergreifende Kunst).
Aus seiner Auseinandersetzung mit der kritischen Wiener Moderne, mit Karl Kraus, Adolf Loos oder Ludwig Wittgenstein und der Neuen Musik von Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Mauricio Kargel, Morton Feldmann, Edgar Varese, John Cage oder Jannis Xenakis entsteht Leitners Verständnis der gegenseitigen Bedingtheit und Zusammengehörigkeit von Körper, Maß und Bewegung.
Sich mit der Concept- und Minimal-Art beschäftigend, lernte er in seiner Zeit in New York Arbeiten von Richard Serra, Donald Judd oder Carl Andre kennen. Ebenso interessieren ihn neue Formen des Tanzes bei Lucinda Childs, aber auch klassisches Ballett von George Balanchine oder Arbeiten von Merce Cunningham sowie die Kompositionen von John Cage, dessen Kunst eine konsequente Absage an das Ringen um Ausdruck darstellt und der beginnt, Klang selbst als gestaltbares Medium im Raum zu verstehen. Body-Art, Performance, Happening und Aktionismus machen deutlich, dass Dreidimensionalität durch den Körper spürbar und ausdrückbar ist.
Für Leitner erschließt sich das Verständnis, dass der ganze Mensch als Hörapparat und Resonanzkörper fungiert. So schafft er aus der Verwendung und unter Einbeziehung von Klang und Ton Räume bzw. Skulpturen, die einerseits Grenzen öffnen und überwinden, andererseits aber bewusst Grenzen setzen. Daraus resultiert ein Wechselspiel zwischen Innen und Außen, das sowohl zeitliche wie räumliche und körperliche Aspekte berücksichtigt.
Mit der Espenkuppel für den Österreichischen Skulpturenpark erweitert Bernhard Leitner sein konzeptuelles Werk um eine architektonisch oktogonal angelegte Form, gleichzeitig beschränkt er sich in der Wahl des Ortes und seiner Mittel auf acht Bäume, die er nicht in monumentaler Geste erhaben platziert, sondern in ein bestehendes Waldstück integriert. Wir begeben uns in einen neu entstehenden Raum, der ohne technische Hilfs- oder Verstärkungsmittel konstruiert wird und einerseits begrenzt, andererseits offen und jederzeit zugänglich ist. Er lässt immer neue Varianten des Hörens zu, und sein Klang entsteht unabhängig von unserer Präsenz oder Absenz.
Bernhard Leitner unterscheidet genau zwischen beiläufigem Hören und Horchen, jenem bewussten Sich-Einlassen und Aufnehmen des Klanges im und durch den Körper, dessen Durchdringung hier in engem Zusammenhang von Sehen, Hören und Spüren in akustischer Haptik wahrgenommen werden kann. Er führt uns zu einer jeweils einmaligen Raumerfahrung im Hier und Jetzt. Änderungen ergeben sich durch variierende Erfahrungen, die nicht nur durch klimatische Einflüsse oder jahreszeitliche Unterschiede, sondern auch durch differenzierte körperliche Bedingtheiten beeinflusst sind: „Die akustische Welt ist auch eine haptische Welt, was oft übersehen wird infolge der Gleichsetzung von Hören und Ohr. […] Die akustische Haptik spielt in meiner Arbeit eine wesentliche Rolle. Das Ohr ist ein Wunderwerk, aber wir hören auch mit der Haut, mit den Knochen, mit den Knochenröhren, den Platten des Knochenbaues, mit den Membranen, Höhlen und Kanälen.“ (Bernhard Leitner: „Mit dem Knie höre ich besser als mit der Wade“. Über Ton-Raum-Architekturen im Kopf, im Körper und anderswo. Stefan Fricke im Gespräch mit Bernhard Leitner, in: P.U.L.S.E., Bernhard Leitner/ Räume der Zeit/ZKM 1998, S. 175)
Wir werden in Bernhard Leitners Arbeit also nicht nur mit einbezogen, sondern wir fungieren gleichermaßen als Instrument und Akteur/in, anstatt bloß passiv zuzuhören oder zu betrachten: „Ich will, dass das Gehirn ton-räumlich denkt, es soll Raum hören können und wollen.“ (Bernhard Leitner im Vortrag „Landschaft hören“ am 10.6.2015 im Kunsthaus Graz, anlässlich seines Aufenthaltes als Artist in Residence im Österreichischen Skulpturenpark)
Das Interesse des Künstlers gilt dem Abtasten des Raumes, der Variabilität von Raum. Tonraum ist nicht statisch, er kommt und vergeht, wobei Zeit der wichtige Parameter ist und der Ablauf, der nicht kontrolliert werden kann, ohne Anfang oder Ende zu verstehen ist. Licht, Temperatur und Feuchtigkeit spielen eine ebenso große Rolle wie unsere körperliche Verfassung; wir hören zum Beispiel am Morgen anders als abends oder haben unterschiedliche Sensitivitäten.
Das Wissen um diese Bedingungen, das unter anderem auf eingehenden Untersuchungen von Akustik und Architektur im 17. und 18. Jahrhundert basiert, wurde z. B. von Athanasius Kircher beeinflusst. Kircher bezog nicht nur die vier Elemente Wasser, Feuer, Luft und Erde in seine Beobachtungen mit ein, er befasste sich auch mit Vorstellungen zur Natur und Akustik, u. a. von Augustinus, Pythagoras oder Seneca, um seine eigenen Entdeckungen zu formulieren: „Also in Sicilien bei dem Berg Aetna, wann der Euro notus bläset/ wird ein stätiges harmonisches Geräusch vernommen/ nicht anderster/ als wann einer etliche Saiten in der 5., 3. und 8. gestimmt hörete. Eben das hat der Autor observirt in den Bäumen von unterschidlicher Grösse/ wann sie vom Wind sind beweget worden/ dann wann ein Baum doppelt ist gegen dem anderen/ wie der Cypreß- und Pappel-baum …“ (Kircherus Jesuita Germanus Germaniae redonutas: sive Artis Magnae de Consono & Dißono Ars Minor; Das ist: Philosophischer Extract und Auszug, aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda Musurgia Universali. Autoren: Athanasius Kircher, Andreas Hirsch, Verlag Gräter 1662. Original: Bayrische Staatsbibliothek; digitalisiert 19. Okt. 2012, S. 265)
Mit seiner Arbeit Espenkuppel ruft Bernhard Leitner nicht nur diese nahezu vergessene Auseinandersetzung wieder ins Bewusstsein, seine Autorenschaft reduziert er konsequent auf die besondere Konstellation spezifischer Bäume in einem spezifischen Umfeld. Dabei bedient er sich eines bereits vorhandenen Formenvokabulars, mit dem er Verwurzeltes, Wandelbares und Ephemeres neu installiert und erfahrbar macht, umfassendes Wahrnehmen wieder in Erinnerung ruft sowie vertikales Hören – das „Nach-innen-Hören“ – bewusst werden lässt, und dabei ganz einfach erklärt:
„Jeder Baum hat seinen Klang. Die Espe (Populus tremula) hat einen besonders feinen, der schon bei der geringsten Luftbewegung zu hören ist. Es sind die langstieligen Blätter, die in ihren freien Drehbewegungen rasch und weich aneinander schlagen. Im März 2015 wurde in einem Waldstück eine kreisförmige Lichtung gerodet, in der auf dem architektonischen Grundriss eines Oktogons acht junge Espen gepflanzt wurden. In ca. drei Jahren werden sich ihre Kronen zu einer kuppelartigen Form schließen und den Innenraum der Espenkuppel als Hör-Raum erfahrbar machen.“