Fünf schwebende Pflüge bezeichnen den geschichtsträchtigen Gebäudekomplex des 1913 gegründeten Volkskundemuseums. Dieses befindet sich im ehemaligen Kapuzinerkloster aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts mit Anbauten aus den 1930er-Jahren. Unmittelbar angeschlossen findet sich die Antoniuskirche, 1602 nach der Verbrennung protestantischer Bücher und mit aller Härte der Gegenreformation erbaut. Aus seiner wechselvollen Geschichte heraus, mit der man sich hier seit vielen Jahren kritisch und offen auseinandersetzt, wurde dieses Haus adaptiert, konzipiert, aus- und umgebaut und 2021 neu eröffnet. Ausgehend vom Sammlungsbestand von mehr als 65.000 Exponaten, hauptsächlich aus vorindustrieller Zeit, werden in diesem Museum unterschiedliche Lebensbedingungen und -welten in deren sozialem, kulturellem und gesellschaftspolitischem Wandel thematisiert.
Manfred Erjautz, dessen Mutter als Mesnerin der Antoniuskirche arbeitete und der in diesem Komplex gemeinsam mit ihr und seinem Brüdern Jahre seiner Jugend verbrachte, wurde eingeladen, hier eine Arbeit im und für den öffentlichen Raum zu entwickeln. Nach mehreren Recherchen und Überlegungen entschied sich der Künstler schließlich dazu, ein Identifikationsgerät bäuerlicher Arbeit zum Artefakt werden zu lassen. Seit Jahrzehnten setzt sich Erjautz mit Werbestrategien, Konsumkritik, der Kodierung, Dechiffrierung und Offenlegung über analoge und digitale Technologien und Mechanismen auseinander. Hier deklariert er den Pflug zu einem Identitätscode, der, seiner Schwere enthoben, im öffentlichen Raum bei allen Tages-, Licht- und Witterungsverhältnissen zum Zeichen wird. Denn ebenso wichtig wie Markt und Technologie sind ihm Themen wie Identität, Zeit und Raum, die Kongruenz von Materialitäten, Formen und Inhalten oder das Verhältnis unterschiedlicher Positionierungen, Kräfteverhältnisse, Techniken und Dynamiken zueinander. Destabilisierung bei gleichzeitig exakter Vermessung spielt bei seinen Arbeiten eine ebenso große Rolle wie Schwingung oder Irritation angenommener Festlegungen. Dies gilt sowohl für seine formale wie auch inhaltliche Determination, die uns im Spannungsfeld zwischen in Bewegung gedachter Möglichkeitsform in großer Fragilität und Feststellung begegnet.
Für diesen Ort wählt Erjautz vom Museum wegen Brüchigkeit und Wurmstich deakzessionierte, d. h. aus dem Museumsbestand ausgesonderte, hölzerne Pflüge aus vergangenen Jahrhunderten aus, um sie durch Transformation und Translokation neu zu schreiben und als von unsichtbaren Kräften bewegten Impuls über die lang gestreckte Begrenzungsmauer fungieren zu lassen. Die gegenseitige Bedingtheit von Raum und Zeit, aber auch deren Relativität, Sprunghaftigkeit und unterschiedliche Wahrnehmbarkeit wirken in vermeintlicher Zielgerichtetheit irritierend.
Beim Pflug, einer Legende nach um 3.700 v. Chr., also noch vor dem Rad, vom chinesischen Kaiser Shén Nong erfunden, handelt es sich um eine der ältesten Maschinen menschlicher Entwicklungsgeschichte. Die Verfremdung des Materials – es handelt sich um Aluminiumabgüsse der Originale – verunmöglicht nicht nur deren Handhabbarkeit, sie öffnet auch neue Impulse und Perspektiven. Fünf unterschiedliche Pflüge sind ihrer ursprünglichen Nutzungsbestimmung im wahrsten Sinne enthoben, scheinen sich als Kunstwerke zu verselbstständigen und zu entschwinden. Gleichzeitig wirkt hier die Zeit wie angehalten. Erjautz ermöglicht uns, den gedehnten Augenblick einer Zeitreise zu erleben, der wir selbst eingeschrieben sind, an die wir also Erinnerung gespeichert haben. In dieser Verbindung von Realität und Fiktion scheint die Schwerkraft überwunden und außer Kraft gesetzt zu sein. Durch die Positionierung der Pflüge in eine für die ihnen ursprünglich zugedachten Arbeiten konträre Situierung erhalten sie nicht nur eine neue Bedeutung und (Sinn)-Ebene, die Vertrautes und Geglaubtes aus den Angeln hebt.
Nicht als retardierendes Loblied auf die geschichtlich, politisch und ökologisch belastete Vergangenheit und Gegenwart der Erde versteht sich diese Arbeit. Als archaische Gegenstände aus dem landwirtschaftlichen Lebensalltag torpedieren sich die Pflüge und mit ihnen unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse über das Heute hinaus. Unsere Wahrnehmung von Bekanntem wird infrage gestellt und zu Neuem herausgefordert. So bezieht uns Manfred Erjautz in den Prozess der Transformation, dem er die Pflüge unterzogen hat, mit ein und mutet uns das Denken des Ungewohnten oder scheinbar Unmöglichen zu.
Text: Elisabeth Fiedler
Mit freundlicher Unterstützung von Johannes Messner