Festrede zum 175. Geburtstag von Peter Rosegger im Rosegger-Geburtshaus Alpl von Karl Wagner (Wien, Zürich)
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Mein derzeitiges Lieblingszitat von Rosegger lautet bis auf Weiteres, mindestens aber für die Dauer des Jubiläumsjahres: „Die Einfalt ist dem Menschen angeboren, aber dumm muß er selber werden.[1] Jubiläen und Festreden sind dafür, wie leicht zu beweisen wäre – hoffentlich nicht jetzt –, hervorragend geeignet. So musste Rosegger schon bei den Jubiläen zu Lebzeiten immer wieder „schlechte Komplimente“ einstecken, wie Anton Kuh zu seinem 70. Geburtstag geschrieben hat.[2] Bis heute wird er bei solchen Anlässen mit großen Wörtern und Begriffen behängt, zum Schaden seiner Texte, zum Nutzen diverser Ideologien.
Ich möchte die heutige festliche Gelegenheit nützen, diese schwere Rüstung etwas zu lockern und die Hauptwörter in Zeitwörter zu verwandeln, also Begriffe in Geschichten. Am Beispiel von Heimat sollen wenigstens andeutungsweise die Vielfalt und Ambivalenzen dieser „Sache“ umrissen werden, die als Rosegger-Spezialität ständig neu aufgetischt wird. Mit Max Frisch wäre viel eher zu fragen: „Kann Ideologie zu einer Heimat werden?“ [3] – eine Frage, die selbstredend auch vor Rosegger und seinen Adepten und Deutern nicht haltmacht. Mit großer Eloquenz und noch größerem politischen Takt hat ihm Anton Kuh den Vorrang gegeben vor allen „Mundartlern, Land- und Einfaltsdichtern und Schollenduftern“.[4]
Und selbst das mit Recht so verrufene Wort „Heimatkunst“ an ihm rehabilitiert. „Was ist Heimatkunst?“, fragt Kuh und gibt sich und uns zur Antwort: „Grätzl-Unkunst. Litera-Touristik. Amateur-Photographie in der Sommerfrische, Idealisierung des Misthaufens. Die sogenannte Kraft, die aus ihr quillt, ist das Harz der Beschränktheit. Sie hat mit der Kunst so viel zu tun wie ein Mitglied der Alpinen Tischgesellschaft ,D’Stoanwandler‘ mit Rousseaus Naturmenschen. Rosegger aber, der als einfallskecker, thymianduftiger Schnadahüpfl-Poet begann […] war ein Dichter.“ Und erst nachdem dieser fundamentale Unterschied festgestellt ist, folgt bei Kuh die Einschränkung: „Ein unkritischer, unscharfer Dichter, dem sein Volk zu nah und selbstverständlich, zu vorbehaltlos lieb war, als daß er ihm bis auf den Urgrund von Leid und Freud geschaut hätte.“ (372)
Hier kommt erstmals etwas ins Spiel, was Berthold Auerbach, Verfasser der damals berühmten Schwarzwälder Dorfgeschichten und ein Vorbild Roseggers, in seiner Theorie der Volksliteratur mit dem Titel Schrift und Volk (1846) in den Worten Hermann Kinders[5] so beschrieben hat: Erst wenn sich die Literatur vom Volk, von der Heimat entfernt hat, kann sie das Wesentliche am Volk entdecken. Wer nicht hinauskommt, kommt nicht heim. Mit anderen Worten: Erst durch die Entfernung wird, im Zurückkehren, die Eigenart in Gutem und Schlechtem am Volk erkannt. So erst könne volkserzieherisch gearbeitet werden. Diese Ansicht ist stark von Friedrich Schiller beeinflusst, der in seiner einflussreichen Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung den Gedanken geprägt hat, dass der moderne Dichter von Natur und Volk entfernt sei wie von seiner Jugendzeit. Er könne über diese Gegenstände nur „sentimentalisch“ schreiben – also mit Verlust- und Trauerempfindung. Die besten Waldheimat-Geschichten sind die, wo diese Trauer spürbar wird.
Dass Heimat nicht einfach vorhanden ist, sondern hergestellt werden muss, zeigt der frühe Roman Die Schriften des Waldschulmeisters, an dem Rosegger ein Leben lang gefeilt und geändert hat. Der Waldschulmeister, nach einem Wort Hofmannsthals Roseggers „stärkste Figur“,[6] therapiert seinen Weltekel, ausgelöst durch eine Bildungskatastrophe und eine unglückliche Liebesgeschichte, in den Winkelwäldern, also im Abseits. Aber nicht oder nicht allein durch Kontemplation, sondern durch eingreifende Praxis. Zunächst heißt es von den Einwohnern dieser wilden Wald- und Gebirgsgegend:
„Viele halten mich für einen Flüchtling und sind mir deshalb gewogen. Ein Mensch, den diese Wäldler gern haben mögen, muß von der Welt verachtet und verbannt sein, muß schier so wild und glück- und sorglos sein, wie sie selbst. Ich habe mich denn auch um eine Arbeit umsehen müssen.“[7] Suspekt macht er sich allerdings durch seine Lektüre Goethes; im Walde ist kein Lesen und Schreiben (vgl. AlH1 159). Aber durch das Vorlesen von Goethe-Liedern entsteht soziale Energie: Die Leute haben sogleich, „ich weiß gar nicht woher“, „eine Weise dazu, und jetzt werden die Lieder im Walde schon gesungen“ (AlH1, 111).
Rosegger legt Wert darauf, keine Ureinwohner-Genealogie der Waldleute zu postulieren. „Ich glaube vielmehr, so wie die alten Bewohner durch eine an die Alpen brandende Welle wilder Zeiten fortgeschwemmt worden sind, so sind nach vielen Jahren in den Stürmen der Zeit Splitter anderer Stämme in diese Wälder verschlagen worden. Man sieht es den Leuten ja an, daß sie nicht auf sicherem Boden der Heimat fußen, daß sie aber gleichwohl den Drang haben, sich in den Waldboden einzuwurzeln und den Nachkommen ein gesichertes und geregeltes Heim zu bereiten“ (AlH1, 137). Mit diesem Bedürfnis nach Heimat verbindet sich das gemeinsame Ziel, „aus diesen zerstreuten, zerfahrenen Menschen ein Gemeinsames, ein Ganzes zu bilden“: „Ich werde ihnen und mir eine Heimat gründen.“ (AlH1, 143)
Die Erosion von Heimat, wie man in der Heimat an der Heimat zugrunde gehen kann, ist hingegen das große Thema von Roseggers Jakob der Letzte, den man als Komplementärroman zu den Schriften des Waldschulmeisters lesen kann.
In Jakob der Letzte geht es auch um die „Sache“ Heimat, also den Hof und den Besitz und die Enteignung durch Prozesse, die schwer zu bekämpfen und auch darzustellen sind. Roseggers Mittel der Personalisierung mag ungenau sein, in der Wirkung auf den Leser oder – ich denke an Felix Mitterers eindrückliche Dramatisierung – auf den Zuschauer, ist es unschlagbar. Die Sache über den Menschen zu stellen, wie es Jakob tut, ist schuldhaft und tödlich. „Immer an einem Ort zu bleiben, ist auch Abschied von ihm“, heißt es bei Ilse Aichinger.[8]
Das herzlose Wort „Sache“ trifft übrigens genau auf den Anfang von Roseggers ‚Heimat Schreiben‘ zu. In seinem allerersten autobiografischen Versuch, der Lebns-Beschreibung von 1858/59, wird mit Heimat der elterliche Hof und Besitz bezeichnet. Allerdings ist diese Heimat-Sache durch einen fürchterlichen Hagelschlag, der Roseggers Texte auch später noch oft durchzuckt, in ihrem Bestand gefährdet. Keine zehn Jahre später ist es dann soweit: Der elterliche Hof muss zwangsverkauft werden. Damit ist Roseggers Bildungsweg ungewisser denn je. Das Fortgehen ist nicht mehr freiwilliger Entschluss, der Heimatverlust zwingt ihn zum Fortgehen, unklar ist, wohin. Denn er wollte immer schon weg aus seiner Herkunftswelt, die ihm in diesen Jahren als „Einöde“ erscheint – und In der Einöde lautet auch der Titel seines ersten Romans, der 1873 von Gustav Heckenast verlegt wird. Er bildet später den ersten Teil von Roseggers Heidepeters Gabriel, eine mühselige Umschrift der Wirrnisse eines autodidaktischen Bildungsgangs ins irdische Gelingen.
Kommt einer heim, der so fortgegangen ist? Erst recht, wenn die Heimat, also die „Sache“, der Besitz verloren ist?
Dazu noch ein Blick auf einen kurzen Text aus den frühen 1890er-Jahren. Der dreißigste und letzte im Wiener Hartleben-Verlag 1894 erschienene Band der ausgewählten Schriften Roseggers trägt den Titel Spaziergänge in der Heimat. Nebst einem Anhang: Ausflüge in die Fremde. Er enthält den kurzen Text „Eine Wanderung zu meinem Geburtshause“,[9] der mit der „Verwunderung“ des Autors beginnt, dass seit dem Erscheinen der Bücher Heidepeters Gabriel und Waldheimat „das alte Berghaus“ „Jahr für Jahr“ viel besucht wird. Die Frühform dieses Literaturtourismus wird von Rosegger nicht ohne zarten Seitenhieb auf die Einheimischen so beschrieben:
„Zuerst sind – gelegentlich einer Durchreise oder eines Sommerfrischaufenthaltes im Mürztale – die Fremden aus der Ferne hinaufgekommen – Sachsen, Schweizer, Berliner, Ungarn; dann sind auch Wiener mitgegangen, endlich selbst Grazer, und daraufhin haben es sogar die Mürztaler wissen wollen, was denn da oben ‚los‘ ist in Alpl beim Kluppenegger, daß fortwährend Fremde kommen und danach fragen und hinaufsteigen […].“ (109) Merkwürdig sind auch deren Mitbringsel von dort: Sie kehren zurück „mit allerlei Buschwerk, frischgeschnittenen Stöcken, wertlosen Steinen und halbmorschen Holzsplittern“. (109)
Der Autor, vorgestellt als „schwarzberockte[r] Stadtherr“, will da nicht nachstehen und folgt dem „närrischen Pilgerzuge“ (109) auf den Alpsteig. Er muss lange fern des Heimathauses gewesen sein, denn er erkennt die Gegend kaum wieder, die „jetzt allmählich zur struppigen Wildnis wird“. (110) Es scheint zuzutreffen, was Moritz Heimann in einem schönen Feuilleton „Die Heimat“ lapidar bemerkt hat: „Man sollte seiner Heimat nicht allzu treu sein, sie ist auch uns nicht treu.“[10] Nicht nur die Gegend, auch das alte Haus erkennt er „kaum wieder“. (112) Die Türen zum Haus sind verschlossen, „im ganzen Gehöfte [ist] Altes mit Neuem gemischt, so daß in mir […] kein rechtes Untertauchen in süßwehmütige Erinnerung sein kann“. (113) Der Halter, der für verschiedene Bauern über hundert Stück Ochsen auf den Gründen zu überwachen hat und am Hof wohnt, erkennt den Besucher zunächst nicht, dann lässt er ihn in das Haus.
„In der Stube war eine ganze Seite der Holzwand mit Kreide beschrieben.“ (117) – Inschriften der Literatur-Touristen, besonders von Frauen, finden sich in diesem „hölzernen Fremdenbuche“. (118) Der Besucher seiner vormaligen Heimat verlässt diese mit gemischten Gefühlen: „Offen gesagt, mir war’s nicht ganz heimlich in der dumpfigen Luft, in einem Raume, wo mich manches zwar erinnerte an die Armut vergangener Zeiten, aber nichts mehr an die Heiterkeit und Lust der Jugend.“ (118) Erst oben, auf den „Hochmatten“, gibt die Fernsicht auf das „blauduftige Bergrund“ (119) endlich den vertrauten Anblick. Mit einem Satz, zitternd vor Ambivalenz, verwandelt sich die Sache Heimat in eine Atmosphäre: „Mir ist die Landschaft ein unerschöpflicher Schatz an Erinnerungen und Stimmungen, der mir nicht zerstört und nicht gestohlen werden kann“. (119)
Und die Sache Heimat, der elterliche Hof? Sie wird beschrieben, als hätte Jakob der Letzte ein anderer geschrieben. Geht es dort um die Klage des Verlusts, so wird hier gelassen und beinahe emotionslos der Wandel konstatiert und die Frage nach einer offenen Zukunft gestellt:
„Jetzt kommt für diese Gegend wieder die Zeit der Wildnis. Jung und kräftig keimt sie auf überall. Und mitten drin steht das Haus, das nicht leben und nicht sterben kann. Völlig zwecklos und sinnlos steht es da, auf wen will es noch warten?“ (119)
Darüber – und über Peter Rosegger – ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Quellen:
[1] Peter Rosegger, Jakob der Letzte, hrsg. und mit einem Nachwort v. Daniela Strigl, Wien, Graz, Klagenfurt: Styria 2018, 269.
[2] Anton Kuh, Rosegger, der Altösterreicher [1913], jetzt leicht zugänglich in der Leseausgabe der Waldheimat. Ausgewählt, kommentiert und mit einem Nachwort v. Karl Wagner, Wien, Graz, Klagenfurt: Styria 2018, 367–370. In der Folge nur mit Seitenangabe im fortlaufenden Text zitiert.
[3] Max Frisch, Tagebuch 1966–1971, Frankfurt: Suhrkamp 1974 (EA 1972), 384.
[4] Anton Kuh, Rosegger [1918], in: Waldheimat (Anm. 1), 371–374, hier 372.
[5] Siehe zum Folgenden Hermann Kinder, Berthold Auerbach. „Einst fast eine Weltberühmtheit“. Eine Collage, Tübingen: Klöpfer und Meyer 2011, bes. 192–196.
[6] Hugo von Hofmannsthal, „Österreich im Spiegel seiner Dichtung“ [1916], in: Reden und Aufsätze II: 1914-1924, hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt: Fischer 1979, 19.
[7] Peter Rosegger, Die Schriften des Waldschulmeisters, Leipzig: Staackmann 1913, 109. [Bd. 1 der Ausgabe letzter Hand]. In der Folge im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle AlH1 und Seitenzahl.
[8] Ilse Aichinger, Kleist Moos Farne, Frankfurt: Fischer 1991, 64.
[9] P. K. Rosegger, Spaziergänge in der Heimat. Nebst einem Anhang: Ausflüge in die Fremde, Wien, Pest, Leipzig: Hartleben 1894, 109–119. Im Folgenden nur mit Seitenzahl im fortlaufenden Text zitiert. Die Schreibung wurde behutsam modernisiert.
[10] Moritz Heimann, „Die Heimat. Eine Art Brief“ [1911], in: ders., Was ist das: ein Gedanke? Essays, hrsg. und mit einem Nachwort v. Gert Mattenklott, Frankfurt: Fischer 1986, 103–108, hier 103.
(372) Seitenangaben der zitierten Quellen