Hermann Nitsch. Zeichnungen

Hermann Nitsch (* 1938 in Wien; † 2022 in Mistelbach) schuf mit seinem Orgien Mysterien Theater ein umfassendes Gesamtkunstwerk, in dem er Malerei, Musik, Aktion, Theater und Architektur verschmolz. Sein Ziel war es, ein allumfassendes ästhetisches und spirituelles Erlebnis zu ermöglichen. Die Zeichnungen und Druckgrafiken von Nitsch sind dabei kein eigenständiger Werkkomplex, sondern integraler Bestandteil seines Gesamtkonzepts. Sie veranschaulichen nicht nur die architektonischen Visionen, die er für sein Aktionstheater entwickelte, sondern bieten auch faszinierende Einblicke in seine Überlegungen und Planungen zu dessen Realisierung.

Informelle Zeichnungen

In der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt erlernt Hermann Nitsch grundlegende druckgrafische Techniken wie Lithografie und Radierung. Nach seinem Abschluss nimmt er 1957 eine Stelle als Gebrauchsgrafiker am Technischen Museum Wien an. Bereits in dieser frühen Phase setzt er sich intensiv mit Themen auseinander, die später zentrale Elemente seines künstlerischen Werks bilden werden, darunter Kreuzigungs- und Kreuzabnahmeszenen sowie weitere Motive der christlichen Ikonografie. Auch die Beschäftigung mit der klassischen Kunstgeschichte, etwa mit Werken von Rembrandt, prägt sein Schaffen.

Wie viele Künstler*innen der Nachkriegsgeneration ist Nitsch auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen, die sowohl von einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte als auch von einer Öffnung hin zum internationalen Kunstgeschehen geprägt ist. Ausdruck dieser Suche sind seine informellen Kritzel-Zeichnungen aus den Jahren 1959 bis 1961, die durch spontane, gestische und intuitive Linienführung wie schnelle Notationen wirken. Hierbei liegt der Fokus auf dem unmittelbaren Ausdruck und dem Prozess der künstlerischen Arbeit. Zur gleichen Zeit entstehen seine ersten Schüttbilder, bei denen er Farbe impulsiv auf die Leinwand gießt oder schleudert, wodurch ähnliche gestische Strukturen wie in den Zeichnungen entstehen.

1962 führt Nitsch seine erste Aktion durch, in der er die Farbe durch Tierblut ersetzt, um Themen wie Opfer, Tod und Erlösung radikal und jenseits traditioneller Kunstkonventionen zu gestalten. In weiterer Folge werden geschlachtete Lämmer, die er kopfüber vor die Wand oder in den Raum hängt, eine zentrale Rolle spielen. Auf Tischen werden symbolbehaftete Geschmacks- und Reizgegenstände wie Blut, Eidotter, Brot, Wein, Wasser, Zucker, Fleisch, Taschentücher, Verbandsstoff, Menstruationsbinden, Anilinfarben u. ä. zur weiteren Verwendung präzise aufgelegt. In den Zeichnungen skizziert er die Anordnung von Gegenständen und die Abfolge der Handlungen.

Lithografie
Radierung
Informel
Schüttbilder

„16. Aktion für Stan Brakhage“

Die großen Papierbahnen hängen 1965 an den Wänden von Nitschs damaligem Atelier im Keller des Gemeindebaues in der Wiener Brünner Straße, in dem er seine 16. Aktion für Stan Brakhage umsetzt. Er benennt die Aktion zu Ehren des anwesenden amerikanischen Experimentalfilmemachers Stan Brakhage (1933–2003). Die heute noch sichtbaren Blutspuren auf den Bahnen versetzen uns nicht nur in diesen Kellerraum zurück, sondern verdeutlichen auch den Dialog zwischen der skizzierten Idee und der tatsächlichen räumlichen Umsetzung der Aktion. Die erhaltenen Aktionsrelikte gleichen einer Übertragung der Zeichnung in den Raum. Die Packpapierbahnen hängen überlappend nebeneinander und bedecken die gesamte Wand. Nitsch bereitet das Setting vor, indem er mit Wachskreiden Linien und Zeichen auf die Papierwand zieht. Er nagelt Menstruationsbinden, rohes Fleisch und Fische an die Wand, die er in weiterer Folge mit Blut, Wasser und Anilinfarben beschüttet. Mit „nach Hyazinthen riechenden“ Lippenstiften zieht er Verbindungslinien zwischen den Objekten. Die dreistündige Aktion zeigt im Kern das sublimierte Abreaktionsbedürfnis, das sich durch alle Religionen und Kulte zieht. Nachdem die Papierbahnen getrocknet sind, werden sie zusammengerollt und gelagert und erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt und auf Leinwand kaschiert.

„Orgien Mysterien Theater“

Hermann Nitsch wird neben Günter Brus, Rudolf Schwarzkogler und Otto Muehl zu den Wiener Aktionisten gezählt. Sie alle verbindet das Streben nach einer neuen, erweiterten Form der Kunst und das Anliegen einer intensiven sinnlichen Selbsterfahrung, die zur Befreiung von gesellschaftlichen Tabus und schlussendlich zur Katharsis führt. Nitschs Überlegungen und Bestrebungen gipfeln in der Entwicklung seines Orgien Mysterien Theaters. Dieses versteht er als eine Erweiterung des klassischen Theaters, die nicht länger auf die Darstellung oder Nachahmung von Geschichten abzielt, sondern auf das unmittelbare und reale Erleben. Das „So-Tun-als-ob“ wird durch tatsächliches Erleben und Empfinden in realer Zeit und realem Raum ersetzt.

Das Orgien Mysterien Theater ist eine Synthese aus vielfältigen kulturellen, religiösen, philosophischen und künstlerischen Einflüssen, die zu einem radikalen, sinnlich aufgeladenen Gesamterlebnis verschmelzen. Nitsch strebt danach, durch die Wiederbelebung archaischer Rituale und die Integration moderner Kunstformen ein tiefgreifendes Gefühl der Katharsis und spirituellen Transformation zu ermöglichen. Ein zentrales Element dabei ist der Einsatz von Blut, das sowohl an christliche Symbolik als auch an uralte archaische Opferrituale erinnert. In seiner doppelten Bedeutung als Symbol für Leiden und Erlösung soll das Blut helfen, Grenzen zu überschreiten und einen Zustand tief empfundener spiritueller und existenzieller Erkenntnis zu erlangen.

Orgien Mysterien Theater
Katharsis
Archaisch

Architekturzeichnungen

Die Erweiterung und Erneuerung des Theaters in Form des Orgien Mysterien Theaters erfordert eine Architektur, die dieser Vision gerecht wird. Nitsch beginnt daher, Theateranlagen zu entwerfen, die unterirdisch angelegt sind und ideale Bedingungen für sein geplantes Sechs-Tages-Spiel bieten sollen. Für ihn ist das unterirdische Bauen die einzige mögliche Antwort auf eine Gegenwartsarchitektur, die er als abstoßend und „verschandelnd“ empfindet. Die geplanten Theateranlagen sollen unter Schloss Prinzendorf entstehen, dem zentralen Schauplatz seines Gesamtkunstwerks. Aufgrund der hohen Kosten bleiben diese Projektskizzen jedoch unverwirklicht. Dies ermöglicht es Nitsch jedoch, in seinen Architekturzeichnungen eine utopische Dimension zu erforschen und hinsichtlich Struktur, Größe und Monumentalität der Räume über die praktisch möglichen Grenzen hinauszugehen. Die unterirdische Architektur weckt vielfältige Assoziationen: eine tiefe Verbindung zur Natur, der Zyklus des Werdens und Vergehens, in dem das Leben aus der Erde hervorbricht und schließlich in sie zurückkehrt. Auch das Keltern des Weins, ein wiederkehrendes Motiv in Nitschs Werk, das in Kellern stattfindet, symbolisiert den Übergang von einem Zustand in einen anderen. Das Hinabsteigen in die unterirdische Architektur spiegelt zudem das Abtauchen/Hinabsteigen in das Unbewusste der menschlichen Psyche wider, das Nitsch in seinen Aktionen zu erforschen suchte.

„die uterale dunkelheit von unterirdischen gängen und raumanlagen, wie überhaupt das geborgene vegetative leben im lichtlosen mutterleib, übt auf mich eine große anziehungskraft aus. Im unterreich, im grab, in der erde ereignet sich der keimende todesschlaf.“

Farbskalen

Die Farbe ist für Nitsch von zentraler Bedeutung, er begreift sie gar als „innerste Angelegenheit der Malerei“. Farbskalen und Farbstudien ziehen sich durch sein gesamtes künstlerisches Schaffen. In den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelt er an der Frankfurter Kunsthochschule Farbübungen für seine Studierenden, die er als „einfache Farb- und Formversuche“ bezeichnet. Ziel dieser Übungen ist es, den Studierenden ein unvoreingenommenes Verhältnis zur Farbe zu vermitteln und ihre Offenheit gegenüber Farbwahrnehmung zu fördern. Gleichzeitig dienen die Farbskalen dazu, intuitive und emotionale Ebenen des Farbempfindens zu erkunden. Um den Unterschied zwischen „wahllosen bunten Farbzusammenstellungen und wirklicher Farbigkeit“ ersichtlich zu machen, schafft Nitsch Aufgabenblätter mit präzisen Anleitungen zur Erstellung von Farbskalen. Er zeigt, wie jede Farbe mit unterschiedlichen Tönen, Gerüchen oder Geschmäckern assoziiert werden kann, und umgekehrt, wie all diese Sinneseindrücke in Farben übersetzt werden können. Wie im in jedem Bereich seines Gesamtkunstwerks vermischen sich auch hier verschiedene Sinneseindrücke zu einer Wahrnehmung. Besonders die Verschränkung von Malerei und Musik, von Farben und Tönen, ist explizites Thema in Nitschs Gesamtwerk. Er spricht davon, dass „Farben zum Klingen gebracht werden“ sollen, und bemerkt, dass in beiden Fällen von Farben, Tönen, Harmonien und Dissonanzen die Rede sei. Dieses Zusammenspiel von Ton und Farbe wird auch in einigen seiner „Partituren“ deutlich. Nitsch sieht in der Farbe und in den Tönen eine Möglichkeit, das Leben tiefgründiger und intensiver zu erleben. Er will eine Verbindung der beiden von Friedrich Nietzsche beschriebenen Prinzipien des Apollinischen – Form und Ordnung – und des Dionysischen – Rauschhaftigkeit und einen alle Formen sprengenden Schöpfungsdrang – als Teil seiner Idee vom Gesamtkunstwerk schaffen.

Apollinisches und Dionysisches Prinzip

„Das letzte Abendmahl“ und „Die Eroberung von Jerusalem“

In den Jahren 1976 bis 1979 arbeitet Nitsch an der Zeichnung Das letzte Abendmahl, die er trotz ihrer beeindruckenden Größe auf nur einem einzigen Blatt Papier realisiert. Im Jahr 1983 überträgt er dieses Werk in einen Siebdruck. Nitsch stellt sich vor, dass seine Aktionen in architektonischen Räumen stattfinden könnten, in denen nicht nur einzelne Organe, sondern der gesamte menschliche Körper in Räume umgewandelt wird. Er erklärt: „das vorerst eher abstrakte organformationen verwendende führt dazu, dass ich nun tatsächlich architektonische gebilde entwerfe, die gegenständlich ganze körper nachbilden oder darauf bezug nehmen. zeichnungen, wie das letzte abendmahl, oder die grablegung, sind architekturzeichnungen nach gegenständlichen vorbildern.“

Sein Ansatz geht über den bloßen Architekturentwurf hinaus. Mit der bildnerischen Umsetzung physikalischer Gleichungen, die die Ausdehnung des Universums modellhaft berechnen, thematisiert Nitsch in Das letzte Abendmahl den Wunsch, eine harmonisierende Analogie zwischen Mensch und Kosmos zu erfahren – unterstützt durch den im Titel enthaltenen Verweis auf die Eucharistie.

Ein weiteres bedeutendes Werk ist die Zeichnung Die Eroberung von Jerusalem, die 1971 entsteht und 2008 als Druckgrafik veröffentlicht wird. In dieser Arbeit druckt Nitsch, wie auch bei einigen anderen, auf Originalrelikte. Während der Titel möglicherweise auf den Ersten Kreuzzug anspielt, visualisiert Nitsch hier erneut einen imaginären Architekturplan für sein ideales Theater in Form einer unterirdischen Stadt. Deren Erscheinungsbild wird durch unzählige verschachtelte Gänge und Räume, feine Kreuzsymbolfelder und organische Strukturen geprägt. Das Hinabsteigen in diese Architektur spiegelt das Eintauchen in die Tiefen der menschlichen Psyche wider. Doch in Nitschs Beschreibungen seiner Entwürfe findet sich auch das Hinaufsteigen, das Hinaustreten und das Auferstehen nach der erlebten Katharsis (Läuterung).

Körper als Architektur / Organische Architektur

Beim Zeichnen der Architekturen erkennt Nitsch rasch die wechselseitige Beziehung und die Herausforderungen, die zwischen Aktion und Architektur bestehen. Die extreme Sinnlichkeit seiner Aktionen erreicht er unter anderem durch das Invertieren körperlicher und psychischer Gegebenheiten. Er öffnet und schneidet Tierkörper auf, um blutdurchtränkte Organe und Gedärme zur Schau zu stellen. Diese Elemente finden ihren Weg in seine Architekturzeichnungen, wo sie in amorphe anatomische Räume, Gänge und Kammern übersetzt werden. Die Beschaffenheit und Nutzung der einzelnen Räume spiegeln sich in den Beschriftungen wider, die Nitsch direkt auf die Zeichnungen schreibt.

Häufig befindet sich in der Mitte der Zeichnungen ein Kreuz, von dem Gänge wie Arterien ausgehen. Nitsch spricht von seinem Theater mitunter als „Gralstempel“ – einem heiligen Ort oder Sakralraum – und bezieht sich damit auf einen Mythos der christlichen und vorchristlichen Symbolik, der oft mit dem Kelch des letzten Abendmahls und dem Blut Christi in Verbindung gebracht wird. Der Heilige Gral wird in der mittelalterlichen Gralslegende und in der Artussage als ein Gefäß beschrieben, mit dessen Hilfe man göttliche Gnade und Erlösung erlangen kann. Nitsch greift diesen Mythos auf, um die symbolische Bedeutung des Grals in seinen Aktionen zu erforschen und neu zu interpretieren. Sein Gralstempel steht dabei nicht nur für einen physischen Raum, sondern auch für einen spirituellen Ort, an dem eine Verbindung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, dem Körperlichen und dem Geistigen, hergestellt werden kann.

Partituren / Partitur der 122. Aktion im Burgtheater

Nitsch beginnt bereits 1958, noch vor seiner ersten Aktion im Jahr 1962, mit der Erstellung seiner ersten Partituren. In seinem umfassenden Gesamtkunstwerk des Orgien Mysterien Theaters spielt das Hören neben den Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Schmecken und Riechen eine zentrale Rolle. Wie im Theater selbst strebt Nitsch auch in seiner Auseinandersetzung mit der Musik danach, diese zu erweitern und neu zu erfinden. Sein Wunsch nach neuen akustischen Ausdrucksmöglichkeiten entspringt dem Bestreben, Töne aus vertrauten Sinn- und Hörzusammenhängen zu befreien, um eine neue akustische Intensität zu erreichen, die integraler Bestandteil des Orgien Mysterien Theaters ist.

Nitschs traditionell benannte Partituren gehen weit über das hinaus, was man unter dem Begriff eigentlich versteht. Sie haben eine Doppelfunktion als musikalische Notation und als Regieanweisungen. Aufgrund seiner Unkenntnis der traditionellen Notenschrift entwickelte er eine eigene skriptural-visuelle Notation. Dabei legte er besonderen Wert auf das „Spielmaß“, das von Lautstärke und Tonsteigerung bestimmt wird. Diese beiden Faktoren werden in seinen Partituren durch die Strichstärke visuell dargestellt, während Leerstellen oder Stille durch schwarz ausgemalte Flächen markiert sind.

Die Partitur in der Ausstellung bezieht sich auf Nitschs 122. Aktion, die im Jahr 2005 im Wiener Burgtheater stattfindet und seine erste Aktion in einem festen Theatergebäude ist. Anlass war der 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheater-Gebäudes nach dem Krieg. Die Veranstaltung umfasst über 100 Akteur*innen aus elf Nationen und dauert von 15:00 bis 22:30 Uhr. Die gesamte Burgtheater-Architektur wird in die Aufführung integriert und das Publikum kann sich frei im Gebäude bewegen und die Akteur*innen beobachten. Nitsch verwendet einmal mehr sein Parsifal-Speer-Motiv, das fünf überdimensionale Speere, vier tote Schweine, tonnenweise Trauben, Tomaten und Blut beinhaltete. Ein frisch geschlachteter Stier wird auf der Bühne präsentiert, um ihn dort öffentlich zu tranchieren und auszuweiden, nachdem er von den Akteur*innen in einer Fackelzug-Prozession um das Theater getragen wurde.

Partitur
Notation
Parsifal-Speer

Die Rückkehr zur Kritzel-Zeichnung und zu bunten Ölbildern

In den letzten Jahren von Nitschs künstlerischem Schaffen entstehen Werke, die stark an seine frühen informellen Kritzel-Zeichnungen erinnern, sowie solche, die eine gestische Erweiterung seiner Farbskalen darstellen. Diese späten bunten Bilder in strahlenden, leuchtenden Farben sollen erneut Töne, Tast- und Geschmacksempfindungen auf der Leinwand oder dem Papier bannen. Charakteristisch für sein Spätwerk sind lebendige Farbharmonien, die leicht, optimistisch und lebensbejahend wirken. In seiner Malerei wendet er sich nach vielen Jahren, in denen Rot dominierte, nun vor allem der Farbe Gelb zu, der Farbe des Lichts und der Auferstehung.

Hermann Nitsch, der sich zeit seines Lebens mit Opfertod, Läuterung und Auferstehung auseinandergesetzt hat, verstirbt am Ostermontag des Jahres 2022.