Ob man darüber erfreut ist oder nicht:
der Film bestimmt stärker als jeder andere Einzelfaktor
die Meinungen, den Geschmack, die Sprache, die Kleidung,
das Benehmen, ja sogar die äußere Erscheinung
eines Publikums, das mehr als 60 Prozent der Erdbevölkerung
umfasst.
Erwin Panofsky "Stil und Medium im Film", 1936
Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, muss man erkennen dass, wie Philip Roth bereits 1975 feststellte, "sich das Leben selbst allmählich zu einem Medium wie Fernsehen, Radio, Printmedien und Film entwickelt hat, und dass wir alle dabei sind, gleichzeitig Darsteller und Publikum einer großartigen, fortlaufenden Show zu werden". (Philip Roth, "Reading myself and others", New York, 1975)
Durch die Zunahme der Möglichkeiten, Bilder zu erzeugen und sie auch der Öffentlichkeit beliebig oft zugänglich zu machen, entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch für bildende Künstler ein Problem. Sie waren nicht mehr im Besitz des Primats der Bilderzeugung. Das Abbilden von Realität sowie das Illustrieren von narrativen Abläufen wurde plötzlich von anderen – "neuen" – Medien übernommen (Fotografie, Film und später Computer). Die bildende Kunst (vor allem die Malerei) ist nicht mehr das Vehikel zum Transport literarischer, mythologischer oder religiöser Stoffe, sie erfüllt auch nicht länger die Aufgabe, die Herrschenden zu portraitieren und historische Ereignisse in idealisiertem Zustand der Nachwelt zu überliefern.
Das Kino bzw. Fernsehen sowie historische Sparten, wie die Oper oder das Theater bestimmen somit den Umgang mit dem Narrativen. Der Weg in die Abstraktion war eine erste Reaktion darauf. Sich auf die vorhandenen Bilder zu beziehen, war als weitere Konsequenz absehbar und stellt für klassische Kategorien wie Malerei oder Zeichnung eine neue Chance dar. In den letzten zehn Jahren wird der Künstler somit zum Lotsen durch den täglich rapide anwachsenden Bilderdschungel. In der gegenwärtigen Kunstentwicklung werden intensiver als je zuvor Bildstrukturen analysiert, kritisiert und Aspekte formaler wie inhaltlicher Natur präzisiert.
Martin Schnurs Kunst nimmt lange Zeit schon Bezug auf genau diese Vorgänge. Die Szenen in Schnurs Bildern (meist Zeichnungen) könnten aus Filmen stammen. Eingefrorene Szenen, Close-Ups und die offensichtlich in einem Handlungszusammenhang stehend ProtagonistenInnen machen das nachfühlbar. Im Film ist es notwendig, im Sinne der Erzählstruktur, die Charaktere, die Gegenstände, die Schauplätze markant zu zeigen. Man hat meist nur ca. 90 Minuten Zeit eine Struktur aufzubauen. Im Film ist man also ständig mit reduzierten Bildsystemen konfrontiert. Alle Details (Hände, laufende Beine, Gegenstände, Blickwinkel) müssen ganz bewusst eingesetzt werden und existieren, obwohl sie einem Ganzen dienen, auch als isolierte Bilder. Derartige Fokussierungen sind auch aus der Malerei oder der Fotografie bekannt.
Martin Schnurs Bilder zeigen diese archetypischen Szenenausschnitte, die wir aus fast allen Filmen kennen. Durch Bildserien oder abstrakte Elemente innerhalb der Bildkomposition (Balken, Rinnspuren etc.) erreicht er einen zeitlichen Ablauf - Dynamik. Die Oberflächen der Bilder mit ihren changierenden, irisierenden Farben, lassen von abwechselnden Blickpunkten verschiedene Farbnuancen entstehen. Die Erinnerung an das elektronische Bild, Monitoroberflächen oder diverse Screens liegt nahe. Die Übertragung in ein anderes Medium (Malerei, Zeichnung) hebt Wirkung, Komposition und Bedeutung des Originalmaterials hervor, überhöht sie oder verlagert sie in einen anderen ästhetischen Bereich.
Somit werden Gebiete erschlossen, oder Präzisierungen erreicht, die im Originalmaterial nicht artikulierbar sind. Genau in diesen Zonen des Unartikulierbaren hat derartige Kunst eine große Bedeutung. Fritz Lang sah diese Chance für den Film. Er war der Ansicht, dass "sich der Film zu einer eigenständigen Kunstform entwickelt hätte, zu einem Theater ohne Worte wenn der Tonfilm nicht aufgekommen wäre". (Fritz Lang im Interview mit Peter Bogdanovich in: Peter Bogdanovich, "Wer hat denn den gedreht?", Zürich, 2000, S.236) Der Tonfilm machte es dem Betrachter einfach, dem Inhalt zu folgen. Das Gefühl für das Unartikulierbare ging somit verloren, obwohl man sich eher an Bilder aus einem Film erinnert als an Dialoge – was für die bildende Kunst ein wichtiger Ansatzpunkt ist. Diese Bilder folgen einer Suggestivkraft. Der Betrachter hat nicht immer nur die erinnerten Filmbilder vor Augen, sondern durchaus auch archetypische Bildstrukturen, die selbstverständlich auch von bspw. der Malereigeschichte miterzeugt werden.
Somit wird umgekehrt das historische Gemälde zum Beispiel J. L. Davids "Der Tod des Marat", 1793, zu einer dramatischen Darstellung eines Verbrechens, wobei der geschichtliche Hintergrund sekundär wird. Es ist der cinematographische Aspekt, der uns heute nicht nur dieses Gemälde zum Ereignis werden lässt. Wenn wir bspw. ein Foto sehen, in dem sich Frank Sinatra über die liegende Shirley MacLaine beugt (um sie zu wecken oder um ihren Tod zu betrauern – nur wer den Film gesehen hat weiß es genau), befinden wir uns vor einem ähnlichen Effekt. Ohne einen Dialog zu Hilfe zu haben sehen wir den Handlungsablauf, wir sehen die Mörderin mit dem Messer in der Hand, hören gleichsam das Plantschen des Wassers und die dumpfen Geräusche der Tritte des in der Badewanne sterbenden Marat. Im Falle des Fotos von Frank Sinatra und Shirley MacLaine hat man den festgesetzten Hintergrund der Film-Story. In Marats Fall gibt es die historischen Tatsachen, die die Handlung bestimmen. Die jeweilige Geschichte ausblendend und das Standbild betrachtend, erkennen wir hier bewusst oder unbewusst einen Rückgriff auf eine christliche Bildform – die Pietà. Der Betrachter kann sich nun aussuchen welche der drei Bildformen die eindrucksvollere ist und welche davon dafür verantwortlich ist, dass gewisse Bilder in Erinnerung bleiben – Hollywood, Massenmedien, die christliche Ikonografie oder die abendländische Kunstgeschichte.
Wenn wir Martin Schnurs Bilder betrachten wird uns bewusst, dass ein Konglomerat aus verschiedenen Bildstrukturen die Möglichkeit der bildenden Kunst ausmachen. Aus dieser bestehenden Vielfalt geht die gegenwärtige Kunst gleichsam als Ordnungssystem hervor. Der Versuch der Neuorganisation von bereits bestehenden Bildformen scheint ein Hauptmerkmal der Kunst der letzten Jahre zu sein. Die lange Tradition als nahezu ausschließliches System der Bilderzeugung macht die bildende Kunst quasi zu einer Instanz – letztlich zur Autorität. Martin Schnurs Bilder, sind trotzdem offen, obwohl eine Vorlage oder ein narrativer Zusammenhang bei oberflächlicher Betrachtung sofort ins Auge fällt. Das stellt sich jedoch später als Falle heraus. Sie haben keinen bestimmten Ort, sie zirkulieren in den Medien, in der Malereigeschichte, in der Geschichte des Kinos oder im eigenen Kopf, der Künstler ordnet das Vorhandene neu im Sinne einer Umcodierung. Die Bilder erzeugen die Stimmung, die ein abwesendes oder bevorstehendes Ereignis – eine Katastrophe – beschwört. Im Titel der Ausstellung: "Die Bewegung am Rande eines Horizonts als Beginn möglicher Angriffe", beschreibt Martin Schnur sehr genau die Situation, in der man sich als Betrachter angesichts seiner Bilder befindet.