Gerhard Rühm ist einer der Mitbegründer der Wiener Gruppe, die ab 1954 sprachliche Versatzstücke und literarische Formhülsen zu Dichtung macht, gefundene Typografien und Zeitungsrisse zu Sprachbildern und Buchstaben und Einzelwörter zu Klangerlebnissen. Entscheidend ist das Verständnis der Sprache nicht nur als Möglichkeit der Mitteilung, sondern als Material, mit dem man arbeiten kann. Alles, was zum Sprachmaterial des Menschen gehört – Laute und Lettern, Ziffern und Zahlen, Wortbildungs- und Satzbaustrategien, Schriftzüge und Schriftbilder – dient Rühm als Werkzeug, um die Bedeutungs- und Ausdrucksqualität der Sprache zu erweitern. Es entsteht ein umfangreicher Werkblock visueller Poesie, der so unterschiedliche Ausdrucksformen wie schreibmaschinenideogramme, typocollagen, fototypocollagen, zeitungsrisse, zeitungscollagen, schriftfrottagen, schriftzeichnungen, skripturale meditationen und viele andere mehr beinhaltet.
1958 hat der Künstler unter dem Titel wortgestaltung – lautgestaltung in der Galerie Würthle in Wien seine erste Ausstellung, die zugleich die international erste Schau visueller Poesie ist. Als Einladungskarte wählt Rühm eine Typocollage, auf der zwölfmal das Wort „Jetzt“ in unterschiedlichen Schriftgrößen zu lesen ist. Das Gegenwartserlebnis, das „Jetzt“, ist einer der zentralen Begriffe in Rühms umfangreichen OEuvre. Jedes Augenblickserlebnis ist einmalig, von unterschiedlichen Qualitäten und Intensitäten bestimmt, die er durch eine Differenzierung des Schriftbildes zu visualisieren sucht. Das „Jetzt“ verheißt, ja fordert ein unmittelbares Erleben der Gegenwart und eine bewusste Betrachtung der Werke im Moment. Der erste Raum zeigt eine Reihe visueller Arbeiten, die den Begriff mit den Mitteln der schriftzeichnung, der typocollage, der schrifttuschen, der skripturalen Motorik, des Objekts und als schichttext durch die Jahrzehnte hindurch erforscht.