Es gibt allerdings Unaussprechliches

Abstraktion bedeutet die Loslösung der Kunst von einer realistischen Gegenstands-Darstellung. In diesem Sinne ist auch Wolfgang Holleghas Kunst abstrakt, da es sich bei seinen Bildern nicht um realistische Abbildungen handelt. Einen klaren Bezug zum Gegenstand finden wir allerdings in Bildtiteln wie Blaue Mütze, Kerze oder Vogel. Die Betrachtung von Dingen steht am Beginn von Holleghas künstlerischem Prozess, der über die Zeichnung als Zwischenstufe schließlich in der Malerei sein Ende findet. Holleghas Kunst bezieht sich also auf die subjektive Wahrnehmung eines Gegenstandes, ohne diesen realistisch darstellen zu wollen. Viele Aspekte eines Gegenstandes können nur durch langsames Schauen entdeckt werden – diese Aspekte übersetzte Hollegha ins Bild und meint: „Die Abstraktion ist in der Natur, im Gegenstand selbst angelegt.“

Holleghas Arbeit ist durchzogen von Bewegung: Die Bewegung der Augen, die das Sehen ermöglicht, dient als Ausgangspunkt des künstlerischen Prozesses, der dann beim Zeichnen und Malen im großen Format durch die ausladenden Bewegungen seines eigenen Körpers weitergeführt wurde. Hollegha bewegte sich während des Malprozesses um die am Boden liegende Leinwand, auf der schließlich ein dynamisches Zueinander von Farbflecken entsteht: Die Setzung eines Fleckes beeinflusste Ort und Richtung aller folgenden.

Der angesehene us-amerikansche Kunstkritiker Clement Greenberg wurde Ende der 1950er-Jahre auf Wolfgang Holleghas Arbeiten aufmerksam. In ihnen sah er zunächst seine Theorie der Malerei verwirklicht. Malerei müsse, so Greenberg, sich auf das zurückbesinnen, was sie einzigartig mache und von jeder anderen Kunstform unterscheide: ihre Zweidimensionalität. Sie solle abstrakt sein, um so der Andeu- tung von Dreidimensionalität zu widerstehen, die man auch in anderen Kunstformen, wie z. B. der Skulptur, findet. Hollegha selbst schloss eine räumliche Deutung seiner Arbeiten nicht aus, weshalb Clement Greenberg sie schließlich als „zu europäisch“ abtat.

Es sind oft unbeachtete Dinge des Alltags und aus der Natur, die Wolfgang Hollegha als Motive für seine Malereien dienten, wie z. B. Puppen, Holzstücke, Töpfe und Körbe. „Mit dem Finden beginnt die Arbeit“, sagte Hollegha und beschrieb jene Dinge als besonders anregend für seine Kunst, die auf bestimmte Weise ungewöhnlich sind und aus denen er „etwas machen“ konnte. Alterungs- und Gebrauchsspuren an der Oberfläche konnten dabei genauso interessant sein wie Farben und Formen eines Objekts.

Die Bilder von Wolfgang Hollegha sind zuweilen von unglaublicher Größe. Sie nehmen in ihrer Farbigkeit die Betrachtenden vollständig ein. Das riesige Format ermöglichte ihm das Übertragen der Bewegung auf den Bildgrund und war durch den Einsatz des ganzen Körpers beim Malen bedingt. Durch die Größe der Bilder, die großen Farbgesten und ausladenden Strich-Schwünge vermeint man in einem eigenen, strahlenden Farb-Kosmos einzutauchen.

Wolfgang Hollegha war sich sicher, dass nicht nur naturwissenschaftliche Methoden Erkenntnisse zutage fördern können. Während die Naturwissenschaften von einem objektiven Standpunkt ausgehen, betonte Hollegha die Unmöglichkeit, die eigene subjektive Sichtweise zu verlassen. Wir haben nur insofern Zugriff auf die Realität, als wir sie auf bestimmte Weise wahrnehmen. Gerade in der Art und Weise, wie wir wahrnehmen, können aber Erkenntnisse stecken: über die Beschaffenheit der Welt und von uns selbst.

Die Galerie nächst St. Stephan war einer der zentralen Orte in der Wiener Kunstszene der Nachkriegszeit. Gegründet wurde sie 1954 von Monsignore Otto Mauer (1907–1973) in unmittelbarer Nähe zum Wiener Stephansdom, an dem er Domprediger war. Wolfgang Hollegha stand am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn, als ihm die Unterstützung durch Otto Mauer zuteilwurde, die später für seine wachsende Bekanntheit in Europa – und auch in den USA – mitverantwortlich war. Mit Arnulf Rainer, Josef Mikl und Markus Prachensky schloss sich Hollegha 1956 zur Malergruppe St. Stephan zusammen. Sie stellten in der Galerie Otto Mauers aus und konnten zusätzlich auf das übrige Ausstellungsprogramm Einfluss nehmen. Mauer war fasziniert von der Abstraktion im Werk der jungen Künstler, die er theologisch deutete und rechtfertigte.

Das Holzstück ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Holleghas Kunst. „Holzstücke mag ich, weil sie ungewöhnlich sind, immer überraschend, unverbraucht“, sagt er. In der speziellen Form und der unebenen Oberfläche eines einzigen Holzstückes vermochte Hollegha eine immense Vielfalt vorzufinden, die ihn zum Zeichnen und schließlich zum Malen anregte.

Unser Bewusstsein, unser „Innen“, bezieht sich über unsere Wahrnehmungen und Gedanken stets auf ein „Außen“. Die Phänomenologie, für die sich Hollegha sehr interessierte, betont die Verschränkung zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt. Die Beziehung zwischen uns und den uns umgebenden Dingen ist auch zentraler Gedanke in Holleghas künstlerischer Arbeit. Durch unsere Bezugnahme gehört ein Ding nicht mehr ausschließlich der Außenwelt, sondern auch unserem Inneren an. Kann eine klare Trennlinie zwischen dem Innen und Außen gezogen werden?

„Wenn ich den Gegenstand, das Motiv, die Zusammenhänge wirklich verstanden habe, wenn der Schwung der richtige ist, dann erst kann ich das Bild malen. Es geht um eine innere Logik, um Bewegung, die das Bild zu einem Ganzen macht. Bewegung und Ding werden eins. Ich zeichne, um mir das Ding in gewisser Weise einzuverleiben“, so Hollegha. Die Entstehung eines Bildes ist vom bewussten Einsatz seines Körpers geprägt. Das große Format seiner Arbeiten macht ausladende Bewegungen notwendig, zusätzlich bewegte er sich beim Malen um die am Boden liegende Leinwand. Hollegha fand gedankliche Anknüpfungspunkte in der Phänomenologie Merleau-Pontys, der den Körper als Bedingung jeder Erfahrung und der Öffnung zur Welt heraus betonte.

Die riesige Leinwand lag am Boden, als sie zum Grund wurde, der die Bewegungen des Künstlers festhielt. Durch Schütten, Wischen und Tropfen der stark verdünnten Farbe übertrug er seine Erkenntnisse und Wahrnehmungen aus der Zeichnung in die Malerei. Letztere diente ihm als Instrument das Motiv zu erforschen, um es im nächsten Schritt durch die Malerei in der Farbe zu befreien. Abstrahiert nach der Natur verselbständigen sich die Bilder an der Wand zu völlig neuen Räumen, die im Erschauen und Empfinden die Zeit verlieren lassen. Wenn Hollegha seine Bilder malte, suchte er immer wieder den Blick aus der Distanz: In seinem Atelier mit einer Deckenhöhe von 15 Metern nutze er eine Leiterkonstruktion, um auf sie hinunterschauen.

In großformatigen Zeichnungen verarbeitet Hollegha vor dem Motiv das Gesehene. Erst nach langer Betrachtung und genauem Schauen erschließen sich dem Maler Formzusammenhänge. Die Erkenntnisse dabei sind sehr individuell und subjektiv, das Motiv bleibt als Ausgangspunkt im Titel manchmal auch für Außenstehende präsent. Scheinbar unbedeutende Gegenstände des Alltags werden im Malerischen überdimensional ins Bild übersetzt. Abstrahiert verlassen sie ihre reale Form, werden im Bild nicht ausgelöscht, aber durch eine andere Wirklichkeit ersetzt.

Die Zurückgezogenheit und die Ruhe der Natur schärften Wolfgang Holleghas Wahrnehmung für die oft unscheinbaren Veränderungen in seiner Umgebung. Im Jahr 1962, am Zenit seines damaligen Erfolges, zog sich Hollegha aufs Land in die Steiermark zurück, um am Rechberg (nahe Frohnleiten) zu leben, wo er auch seine Kindheit verbracht hat. Ein karg eingerichtetes Domizil aus dem 17.Jahrhundert diente ihm seitdem als Wohnraum und Atelier. Es waren die vegetativen Formen und das Organische in der Natur, die ihm immer wieder als Anregung dienten. Dabei war ihm bewusst, dass unsere Wahrnehmung der Natur immer auch davon abhängt, was wir in sie „hineinlesen“.

Es sind vor allem organisch geformte Dinge, die Hollegha in seiner Kunst als Motive dienten. Ihn interessierte weniger die geometrisch exakte Form, sondern vielmehr das Verdrehte, Gewachsene, Lebendige. Auch Holleghas Rückzug aufs Land lässt sich in dieser Hinsicht verstehen: Den allzu geraden Linien der Stadt zog er die Vegetation der Natur vor: „Das Schiefe, Organische interessiert mich“, so Hollegha.

Immer wieder hat sich Hollegha mit der philosophischen Strömung der Phänomenologie, vor allem mit den Schriften Maurice Merleau-Pontys, auseinandergesetzt, in denen er Parallelen zu seinen eigenen Gedanken fand. Die Beziehung zwischen Ding und menschlichem Bewusstsein war sowohl für Holleghas Kunst als auch für die Phänomenologie zentrales Thema. Im Mittelpunkt steht die menschliche Erfahrung und die Art und Weise, in der sich Dinge uns durch diese Erfahrungen präsentieren. Das phänomenologische Denken streicht heraus, dass Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist – für sich alleine, ohne den Bezug auf etwas, ist kein Bewusstsein denkbar. Wir gehen davon aus, dass unsere Wahrnehmungen von Dingen irgendeine Entsprechung in der Realität haben, wir anhand unserer Wahrnehmungen also Aussagen darüber machen können, wie diese Dinge sind. Auf welche Art und Weise uns Dinge erscheinen, gibt schon teilweise Auskunft über ihr Sein. In seiner Malerei beschäftigte sich Hollegha intensiv mit den verschiedenen Erscheinungsweisen einzelner Gegenstände.

Auf die Realität haben wir keinen von unserem subjektiven Standpunkt unabhängigen Zugriff. Die Realität erscheint nicht jedem gleich, sie ist immer nur bruchstückhaft wahrnehmbar und kann in ihren Erscheinungsformen wechseln. Dennoch gehen wir davon aus, dass die Erfahrungen, die wir mit und in der Welt machen, uns etwas davon mitteilen, wie die Welt wirklich ist. Die Realität beschert uns eine Fülle an zunächst ungeordneten Eindrücken, die wir nicht als zusammenhängendes Ganzes wahrnehmen, sondern nur Stück für Stück erfassen können. Diese sichtbare Realität wollte Hollegha in seinen Bildern zum Ausdruck bringen. Statt aber seine Wahrnehmung der Welt nachahmend abzubilden, schuf er eine eigene malerische Realität, die uns die Vielfalt näherbringt, die schon ein einziger Gegenstand in sich tragen kann.

Holleghas künstlerischer Prozess begann mit dem Schauen: Mit langsamem Blick betrachtete er die Dinge, die ihm als Motive dienten. Das Schauen ist ein zutiefst aktives Vorgehen – nicht alles, was in unser Sichtfeld gerät, wird von uns auch wahrgenommen. Was wir bewusst anschauen und was wir übersehen, hängt sehr stark von unseren bisherigen Erfahrungen und unseren Interessen ab. Die Dinge, die ihm als Motive dienen, schaute sich Hollegha genau und oft in großer Nähe an, um Aspekte zu entdecken, die in einer raschen und extrem selektiven Alltagswahrnehmung unbeachtet bleiben.

Wie kam Wolfgang Hollegha vom Gegenstand zum Bild? Am Anfang des künstlerischen Prozesses stand für ihn das langsame Schauen, mit dem er ausgewählte Dinge „abtastete“. „Es kann auch ein Fetzen sein, der daliegt und eine bestimmte Form hat, mit der ich etwas machen kann. Was machen zu können, heißt für mich, es verwandeln zu können“, meinte Hollegha. Das Gesehene erfuhr dann die erste Transformation in der Zeichnung. Auf die Zeichnung folgte schließlich der Malprozess unter starkem Einsatz des Körpers. Die so ins Bild transformierte ursprüngliche Wahrnehmung bringt eine Konfrontation mit dem Gegenstand hervor, die in unserem Alltag so nicht möglich ist: Der enorme Maßstab, die Vergrößerung einzelner Aspekte und die aufgerissene Form sind beinahe überfordernd. Hollegha transformierte seine eigene Wahrnehmung eines Gegenstandes ins Bild, umgekehrt ist es den Betrachtenden aber kaum möglich, über das Bild den Gegenstand, der als Motiv diente, zu rekonstruieren. Die Transformation in Holleghas Kunst ist eine nicht umkehrbare Operation.

1958 kam Hollegha in Kontakt mit der New Yorker Kunstszene, mit der ihn einiges verband: Künstler des Abstrakten Expressionismus, der sich seit den 1940er-Jahren in den USA entwickelte, malten auf der am Boden liegenden Leinwand, stiegen während des Malaktes quasi „ins Bild“, lösten sich von einer klaren Komposition der Malerei und tropften oder schütteten stattdessen die Farbe unter starkem körperlichen Einsatz auf die großformatige Leinwand. In ihren Bildern gab es kein festgelegtes Zentrum, kein Oben und Unten. Der bedeutende Förderer dieser Maler, Clement Greenberg, stellte Hollegha 1959 zusammen mit Morris Louis, Barnett Newman, Kenneth Noland und David Smith in New York aus. Bislang selten wurde auch auf Helen Frankenthaler verwiesen, die auch durch ihre männlichen Kollegen in der Kunstgeschichte bislang ausgeklammert wurde. Hollegha hätte in den USA eine Weltkarriere aufbauen können, er hat sich stattdessen aber für das eher zurückgezogene Leben in der Steiermark entschieden.

Hollegha hat sich vom Trubel der Stadt aufs Land zurückgezogen – nicht um der Vielfalt zu entfliehen, sondern um sie in der Natur wiederzuentdecken. Die Veränderungen, die um ihn herum passierten, nahm er bewusst wahr und spürte so den Reichtum an Farben, Formen und Konstellationen der sichtbaren Welt auf. Er entdeckte die oft unbemerkte Vielfalt des Großen im Kleinen, ohne dabei aber in esoterische Gefilde zu geraten. Schließlich versuchte er, die Vielfalt des Seins – also etwas letzten Endes nicht Festlegbares – in Bildern auszudrücken.

Die Bilder Wolfgang Holleghas zeigen deutliche Spuren seiner Art zu malen: Die mit Terpentin verdünnten Farben wurden aus Schüsseln auf die Leinwand gegossen und mit Fetzen oder Händen darauf verwischt. Wurden frühere Werke noch mit dem Pinsel gemalt, wird dieser von Hollegha später nur noch dazu verwendet, um Farbe auf die Leinwand zu tropfen.

1929 geboren in Klagenfurt, wächst in der Steiermark auf.
1947–1954 Studium an der Akademie der bildenden Künste, Wien.
1952 erste Einzelausstellung im Art-Club; Mitglied der „Hundsgruppe“.
1956 Gründung der Malergruppe St. Stephan.
1958 Guggenheim-Preis für Österreich.
1959 Teilnahme an der Ausstellung Pittsburgh International; Gruppenausstellung, Galerie French&Co, New York (kuratiert von Clement Greenberg).
1960 Einzelausstellung, French&Co, New York.
1961 Einzelausstellung, Everett Elin Gallery, Los Angeles; Carnegie-Preis.
1964 Ausstellungsbeteiligung im Guggenheim Museum, New York, und an der Documenta III, Kassel.
1967 Einzelausstellung, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien; österreichischer Vertreter auf der IX. Bienal de São Paulo.
1972–1997 Leitung der Meisterklasse für Malerei an der Akademie der bildenden Künste, Wien

Lebte und arbeitete bis zu seinem Tod 2023 am Rechberg (Steiermark) und in Nordspanien

Die Zeichnung war für Hollegha unabdingbarer Bestandteil des künstlerischen Prozesses. Er betrieb damit kein Abzeichnen des Motivs im herkömmlichen Sinne, sondern ein zeichnendes „Absuchen“ der Dinge nach Festlegungen. Seine Zeichnungen, die er zum Teil auch kolorierte, dienten ihm als Vorstufe zum Malprozess, legten zum Teil Schüttrichtungen der Farbe und die innere Dynamik des Bildes fest: „Ich zeichne, damit ich das Ding besser sehe“, so Hollegha.