Mittelalterliche Dörfer

Im Mittelalter kommt es in der Steiermark erstmals zur planmäßigen Besiedelung des ländlichen Raums und vielerorts zur systematischen Anlage von Dörfern. Wir möchten dies am Beispiel der südöstlichen Steiermark erörtern. 
 
Gesicherte politische Herrschaftsräume, Verbesserungen in der Agrartechnik sowie folglich gute Ernteerträge und Bevölkerungswachstum befördern die mittelalterliche Landnahme. Verantwortlich dafür sind weltliche und geistliche Grundherren, die im Sinne eines optimierten Wirtschaftens dazu übergehen, ihre Untertanen dort anzusiedeln, wo geeignete Ackerflächen und Weiden zur Verfügung stehen. Die grundherrschaftliche Macht beschränkt sich dabei nicht nur auf die Entscheidung über die Lage oder den Dorftyp. Die „Herrschaft“ legt sich als abstrakter Rechts- und Verwaltungsraum über den realen Raum und bestimmt so das Leben der Menschen für die kommenden Jahrhunderte wesentlich mit.

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Was sind Dorftypen und Flurformen?

Die Höfe (Wohn- und Wirtschaftsstätten) und Flure (Wirtschaftsflächen) ergeben zusammen ein Dorf. Je nach Aufteilung der einzelnen Feldstücke (Parzellen) spricht man von unterschiedlichen Flurformen, wobei manche Flurformen zwingend mit einem Dorftyp verbunden sind. Die Parzellenstruktur steht dabei natürlich auch unter Einfluss des Geländereliefs.

Die verschiedenen Dorftypen lassen sich insbesondere über ihren Grundriss beschreiben. Dieser bestimmt nicht nur die Form des Dorfs, er sagt auch etwas über die Stellung der Höfe, Straßen, Wege, Plätze, Grünflächen und Gärten zueinander aus. 

Die „Gründungsdörfer“ im Unteren Murtal sind mehrheitlich Straßen-, Zeilen- oder Angerdörfer. Ihr Grundriss ist regelmäßig, die Anordnung der Bauernhuben linearer. Nach ihrer Flurform sind es meist „Gewannflurdörfer“: Das Ackerland einer Siedlung teilt sich in einzelne Äcker („Gewanne“), die sich wiederum in streifenförmige Parzellen nach der Anzahl der Dorfbauern gliedern. Nicht selten sind die Hofnachbarn auch Feldnachbarn. Häufig finden sich hier auch langstreifige „Haus- oder Hofäcker“ (Gelängeflur) direkt im Hofanschluss.

In eher versumpften Talstrecken, wo Ackerbau nur bedingt möglich ist, werden auch Weiler mit Blockgemengeflur gegründet: Fünf bis acht Huben wird hierbei das Land in Blöcken zugewiesen. Im Hügelland entstehen nach wie vor Einzelhöfe und Streusiedlungen, verbunden mit einer Einödflur.

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Siebing besteht ursprünglich nur aus einer Zeile eng aneinander gebauter Höfe entlang einer gekrümmten Dorfstraße. Es liegt auf der untersten Terrassenfläche eines zum Saßtal abfallenden Gleithangs. Die Flure sind deutlich als Rodungen aus dem darüber liegenden „Schweinsbachwald“ zu erkennen. Die Größe von Siebing wird erstmalig 1406 mit 16 bewirtschafteten Höfen angegeben. Eine Volkszählung gibt es zu dieser Zeit noch nicht, die Einwohner*innenzahl kann aber auf rund 50 Personen geschätzt werden. Wohl überliefert ist der Viehbestand: 1542 werden 145 Rinder, 114 Schweine und 40 Pferde gezählt!

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Wo liegen die „Modelldörfer“ Siebing, Lichendorf und Zelting?

Die als „Modell“ für mittelalterliche Plansiedlungen gewählten Dörfer liegen heute in den politischen Bezirken Leibnitz bzw. Südoststeiermark, topografisch-geografisch betrachtet im „Grabenland“ bzw. im „Unteren Murtal“. Das ist jener Talabschnitt links der Mur, der südlich bzw. südöstlich an das Grazer und Leibnitzer Feld anschließt. Östlich des Murbogens erstreckt er sich bei Ehrenhausen vom Vogauer und Murecker Feld bis zum Radkersburger Winkel.

Das „Untere Murtal“ wird im Norden vom sogenannten „Grabenland“ begrenzt. Dieses Hügelland zwischen Mur und Raab besteht aus fünf Haupt- und einigen Nebentälern, die nacheinander von Westen nach Osten parallel liegen und in südlicher Richtung gegen die Mur auslaufen. Die fünf Haupttäler, das Stiefing-, Schwarza-, Saß-, Gnaser- und Stradnertal, sind durch gleichmäßige Höhenzüge voneinander getrennt.

Die Landschaft ist bis heute stark agrarisch geprägt. Zumindest dort, wo im 20. Jahrhundert noch keine Grundzusammenlegungs- und Flurbereinigungsverfahren durchgeführt worden sind, zeigt sich ein zwischen Natur und Mensch gewachsenes Flur- und Siedlungsbild, dessen Ordnung und Funktionalität innerhalb des feudalen Gesellschaftssystems entstanden ist. Mangels einer nennenswerten Industrialisierung ist hier im 19. Jahrhundert ein erheblicher Bevölkerungszuwachs unterblieben. Zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lag in diesen Dörfern die überwiegende Anzahl der Haus- und Hofstellen noch innerhalb der geschlossenen historischen Siedlungsanlage.

Die Fotochromkarte zeigt die Geländestruktur im Grabenland und im Unteren Murtal auf einer Länge von rund 20 km zwischen Mureck und Radkersburg. Die „Modelldörfer“ Siebing und Lichendorf liegen knapp links, Zelting und Laafeld knapp rechts außerhalb des Bildausschnitts.

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Wo werden Dörfer gegründet?

Die landschaftlichen Gegebenheiten entscheiden über die Standortwahl! Die Höfe brauchen eine geschützte Lage, Acker- und Weideflächen müssen Ertrag versprechen und leicht erreichbar sein. Auch die Sonnenoffenheit und die Verfügbarkeit von Wasser für Mensch und Vieh sind wichtige Kriterien. Die Lage an Handelswegen spielt hingegen für Ortschaften keine Rolle: Abgeschiedenheit ist in unsicheren Zeiten sogar von Vorteil.

In der Steiermark wird die Lage vieler Siedlungen bereits durch das Talnetz vorgezeichnet. Während Lichendorf, Laafeld und Zelting in der Murebene direkt auf Schwemmland liegen, befindet sich ein beachtlicher Teil der steirischen Dörfer auf Terrassen, die sich über den Talböden erheben. Schon die erste Terrasse über dem Fluss verspricht mehr Schutz vor Überschwemmungen. Bebaut werden insbesondere die Terrassenränder, wo diese gegen niedere Terrassenstufen oder gegen die Flussebene abbrechen. Die großen Terrassenflächen werden wie auch die Talböden und Hänge landwirtschaftlich genutzt. Talrandsiedlungen im unteren Teil einer Hügelböschung, wie etwa Siebing im Saßtal, kommen häufig im südoststeirischen „Grabenland“ vor.

Zelting wird 1362 als „dorf za zelkhen“ erstmals genannt. Der Name leitet sich vermutlich vom mittelhochdeutschen Wort zelgn (Flurteilung in Ackerriede) ab. Zelting ist wie Sicheldorf ein „Rundling“. „Rundlinge“ stellen mit ihrer schmal parzellierten Gewannflur eine Sonderform der Plansiedlung dar:Die Streck- und Hakenhöfe sind in einem Oval rund um einen zentralen Dorfplatz angeordnet und erzeugen gewissermaßen einen Schutzraum. Ihr Anger wird schlingenartig von einer Randstraße umsäumt. Im Gegensatz zu einem Rundangerdorf hat ein „Rundling“ daher nur einen Ortszugang.

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Umgeben von Plansiedlungen liegt an einem Altarm der Mur bei Radkersburg ein „unplanmäßiges“ Haufendorf: Laafeld, das 1390 als „Lehenfeld“ erstmals erwähnt wird. Haufendörfer entstehen zu allen Besiedlungszeiten und liegen meist im Zentrum großer Wirtschaftsflächen. Ihre Höfe unterscheiden sich in Größe und Form stark. Ihre Position ist aber möglichst günstig gewählt, etwa hinsichtlich der Besonnung. Zwischen den Höfen liegen Gärten und Äcker sowie ein unregelmäßiges Wegenetz mitsamt Sackgassen, das die Höfe verbindet.

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Warum und wie werden Angerdörfer angelegt?

Angerdörfer sind speziell für eine rasche, flächendeckende Besiedelung in ebenen bis flachhügeligen Regionen konzipiert. In der Struktur der Grundstücke und der Gleichförmigkeit der Gehöfte widerspiegelt sich auch die gesellschaftliche Homogenität der Bauern. Meist ist nur der „Moarhof“ des grundherrschaftlichen Amtmanns aus Stein gebaut, die übrigen Höfe sind Holzbauten auf Steinsockeln.

Im Zentrum des Dorfes befindet sich der Anger, eine gemeinschaftlich genutzte Weidefläche. Er liegt vorzugsweise in Mulden an einem Bach oder einer Quelle für die Viehtränke und dient stets auch als zentraler Kommunikationsort.

Rund um den Anger sind die Hofparzellen regelmäßig angeordnet. Streck- und Hakenhöfe reihen sich an der Angerrandstraße aneinander, woran Kraut- und Obstgärten anschließen. Das Dorf wird mit einem Bannzaun (Gatter) eingefriedet, später tritt an seine Stelle der „Hintausweg“.

Die Flur umgibt die Dorfanlage. Die Bauern betreiben Ackerbau in Form der Dreifelderwirtschaft mit regelmäßiger Fruchtfolge (Wintergetreide, Sommergetreide, Brachfeld). Das verfügbare Ackerland wird dabei in drei möglichst regelmäßige Felder aufgeteilt. Je nach Anzahl der Hofstätten werden diese in Ackerstreifen unterteilt. Auch die Flur wird mit einem Zaun oder einer Hecke umgrenzt. Daran schließt die oft gemeinschaftlich bewirtschaftete Waldweide an. Rundherum erstreckt sich das Naturland.

In der Regel führen an den Angerenden je zwei Straßen in die Flur bzw. zu den Nachbarorten. Von diesen gabeln Feldwege zu den einzelnen Grundstücken ab.

Lichendorf

Schriftliche Quellen zur Gründung Lichendorf gibt es nicht. Die früheste urkundliche Nennung stammt aus dem Jahr 1370. Wahrscheinlich wird Lichendorf aber bereits im 13. Jahrhundert planmäßig angelegt. Der Ortsname könnte sich vom Personennamen eines unbekannten Gründers oder ersten Amtmannes ableiten. 1406 umfasst das Dorf 22 Huben. 1445 besteht es aus 25 Feuerstätten. 1542 wirtschaften hier 28 Bauern.

Im 18. und 19. Jahrhundert kommt es vielerorts zu einer (teilweisen) Verbauung der früher gemeinschaftlich genutzten Angerfläche. Nicht selten werden am Anger die Dorfkapelle, die Dorfschule, Gemeindeämter oder andere kommunale Infrastrukturen errichtet.

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Lässt sich der Grundriss eines mittelalterlichen Plandorfes überhaupt rekonstruieren?

Die Pläne des Franziszeischen Katasters sind unverzichtbarer Ausgangspunkt jeder flur- und siedlungsgeschichtlichen Analyse. 1817 wird eine systematische Dokumentation sämtlicher Grundstücke in allen Landesteilen der Monarchie beschlossen. Die Vermessung des Herzogtums Steiermark erfolgt großteils zwischen 1823 und 1826. Dabei werden die genauen Flächenmaße sämtlicher zu einer Liegenschaft gehörigen Bau- und Grundparzellen verzeichnet und erstmals im Maßstab 1 : 2880 kartografisch dargestellt.

Die Katasterpläne aus dem 19. Jahrhundert geben uns bis heute wichtige Hinweise auf die hoch- und spätmittelalterlichen Flur- und Siedlungsstruktur eines Dorfes, da die Parzellenanordnung auch wesentlich vom Gelände bestimmt wird. Natürlich wurden da und dort Grundstücke zusammengelegt oder Höfe und Keuschen abseits der ursprünglichen Häuserzeile(n) angelegt. Lage und und Grundriss einer Siedlung stammen aber weitgehend aus der Zeit ihrer Gründung. Dies betrifft insbesondere die planmäßige Anordnung der Hofstellen und des Ackerlandes sowie das Straßen- und Wegenetz.

Beständiger als der Aufriss ist der Grundriss. Letzterer bewahrt uns eine Vorstellung von Größe, Ausrichtung und Aussehen einer mittelalterlichen Siedlung. Der Aufriss hingegen ist den baulichen Moden der Zeit unterworfen.

Siebing, einzeiliges Straßendorf im Saßtal, 1962

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Siebing, einzeiliges Straßendorf im Saßtal, 1962

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Siebing, einzeiliges Straßendorf im Saßtal, 1962

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Wie leben und wirtschaften die Menschen in den Dörfern?

Der mittelalterliche Bauer ist nicht frei. Er leistet Abgaben an den Grundherrn, der ihm dafür Land zur Bewirtschaftung zur Verfügung stellt. Zudem sind unentgeltlich Frondienste (Robot), wie Heu- und Feldarbeiten oder „Treiberdienste“ bei der Jagd zu leisten. Ein eigenes Jagd- und Fischereirecht ist den Bauern verwehrt.

 

Das Leben im Dorf ist auf Selbstversorgung ausgerichtet. Die Bauern im Unteren Murtal kultivieren neben Hafer, Weizen, Roggen und Korn auch Hirse und Heiden. Krautgärten und Bohnen gibt es bei fast jedem Hof, auch Mohn- und Flachsbau sind häufig. Handwerker gibt es im Dorf noch keine, nur vereinzelt lassen sich sog. „Bauernschmiede“ vorzugsweise am Ortsrand oder an Weggabelungen nachweisen.

 

Zur Verwaltung seiner Dörfer fasst der Grundherr benachbarte Bauernhuben in sogenannte „Ämter“ zusammen und bestellt einen angesehenen Bauern zum Amtmann, der in seinem Sinn spricht und agiert. Für seine Dienste erhält er zwar Vergünstigungen, etwa bei den zu leistenden Abgaben. Vor allem aber die Organisation der Robot führt häufig zu Streit mit den anderen Bauern.

Die Bauern organisieren sich auch selbst: In der Mittel- und Untersteiermark sind zahlreiche erbliche bzw. gewählte Dorfrichter oder Suppane belegt. Als Vertreter der Dorfgemeinschaft („Gmoa“) – eine Frühform ländlicher Selbstverwaltung -  beaufsichtigen sie u. a. die gemeinschaftliche Nutzung der zinsfreien Viehweiden sowie die Instandhaltung der Zäune, Wege, Stege und des Dorfbrunnens.

Der Aktionsradius der Dorfleute reicht selten über die eigenen Flure hinaus. Zu Fuß ist beispielsweise der Siebinger Amtmann knapp eine Stunde zum „Moarhof“ der Grundherrschaft Brunnsee unterwegs. Zum Landgericht in Weinburg braucht ein Zeuge nur eine gute halbe Stunde. Der Markt Mureck ist einen Fußmarsch von gut zwei Stunden entfernt. Die damals nächstgelegene Städte Radkersburg und Marburg an der Drau (heute Maribor) sind ohne Reittier oder Gespann erst in 5 ½ bzw. 6 1/4 Stunden zu erreichen.

Der letzte Weg zum Friedhof bei der Pfarrkirche St. Veit am Vogau dauert über den alten Kirchweg rund 1 ¾ Stunden.

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