China produziert seine Klischees. Wer heute ein beliebiges China-Restaurant betritt, trifft regelmäßig jenen ausufernden, für moderne Augen reichlich bizarren Prunk an, wie er für die Zeit der Qing-Dynastie so bezeichnend ist.
Völlig anders ist das Chinabild, das durch die ebenfalls massenhaft verbreitete Produktion von Holzstatuetten vermittelt wird, der China trade art. Schon durch ihr kleines Format sind diese künstlerisch anspruchslosen, von anonymen chinesischen Handwerkern erstellten Produkte als Souvenirware für westliche Reisende zu erkennen. Für die noch seltenen Fotografien bieten sie ebenso willkommenen wie preiswerten Ersatz.
Wer um 1900 China bereist, sieht sich sogleich von unendlichem, scheinbar regellosem Gewimmel umgeben, wie es – bedingt durch die riesige Bevölkerungszahl – Straßen, Plätze und Häfen erfüllt, oft überragt von mächtigen Ziegelmauern, Türmen und Tempeln, den teilweise schon verfallenen Monumenten einstiger Größe. Seit Generationen hat das westliche Auge Gelegenheit, seinen Sinn fürs Pittoreske zu schulen. Mit südeuropäischen und jetzt auch orientalischen Schauplätzen ist es bereits vertraut. Oder es nimmt die „Reiseerzählungen“ des Bestsellerproduzenten Karl May für bare Münze.
Im Ostasien findet diese Gewohnheit ihre Fortsetzung, wobei sich Faszination für die enorme Vielfalt des „Fremden“ einerseits und stolz behauptetes Überlegenheitsgefühl andererseits die Waage gehalten haben dürften. So archaisch das wogende Treiben in Kanton oder Shanghai anmuten mag, es folgt einer ebenso alten wie modernen, ja aktuellen Regel: Zahllose Dienstleister treffen auf eine ebenso zahllose Kundschaft, es herrschen die Gesetze des Marktes.
Sieht man von buchstäblich finsteren Ecken ab, wie sie für den Opiumkonsum bestimmt sind, so spielt sich das chinesische Volksleben zumeist in aller Öffentlichkeit ab. Die Straße ist nicht nur Kommunikations- und Erschließungsweg, sondern auch Bühne für alle erdenklichen Formen der Existenzsicherung, oft genug hart am Rande bitterer Not. Kulis beherrschen als billige Arbeitskräfte scharenweise das Straßenbild, sie sind in der sozialen Pyramide Chinas ganz unten angesiedelt. Die hochgestellten Beamten jedoch, die Staatselite schlechthin, nutzen lieber die Exklusivität ihres Sänftenprivilegs und meiden den direkten Kontakt mit den breiten, ihnen unberechenbar und gefährlich scheinenden Volksmassen.