Ausstellung gerahmter Zeichnungen und Drucke von Richard Fleissner.
Paul Feyerabend beginnt seine „Erkenntnis für freie Menschen“ folgendermaßen: „Seit Beginn des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens im Abendland verlangt man von Ideen, Institutionen, Traditionen nicht nur, dass sie Erfolg haben. Bedürfnisse befriedigen. mit der Erfahrung übereinstimmen, wertvolle Einsichten bewahren, man verlangt von ihnen auch noch .Rationalität‘, das heißt: Übereinstimmung mit gewissen allgemeinen Regeln und Maßstäben“. (1)
Es scheint so zu sein, als strebe der Mensch seit Anbeginn seiner Tage nach .‚Ordnung. Strukturieren. analysieren und objektivieren sind auch wesentliche Grundlagen des Systems. das wir Wissenschaft nennen und das unser volles Vertrauen genießt, wenn es um Erkenntnisgewinn geht. Mit diesem System haben wir gelernt. Aussagen über den Menschen und seine Tätigkeiten und Erzeugnisse zu machen. Die innerhalb des jeweiligen Wissenschaftszweiges vereinbarten Gesetzmäßigkeiten ist man bestrebt einzuhalten und den Resultaten zu glauben. „Ausnahmen bestätigen die Kegel“, weiß der Volksmund.
Die Chaostheorie hat gezeigt, dass aber gerade die Ausnahmen der „Normalfall“ sind und die Gesetzmäßigkeiten und Kegeln vielfach Konstrukte darstellen, die von Laborbedingungen ausgehen. In der Kunstwissenschaft begegnet man einem ähnlichen Vorgang. Man versucht zunächst, das zu untersuchende Gebiet zu erlassen, um zu einer überschaubaren Dimension zu gelangen. Schon beginnt das Problem, denn man wird dem Kunstwerk in seiner vollen Dimension nicht gerecht und macht letztlich verkürzte Aussagen.
Es gehört zur Voraussetzung. das Oeuvre eines Künstlers in einem Verzeichnis aufzulisten. Titel, Entstehungsjahr: Technik und Dimension sowie Aufbewahrungsort sind objektive Fakten. gleichsam ein Skelett einer bis zu einem gewissen Zeitpunkt geleisteten Arbeit. Die Exaktheit und Unmissverständlichkeit einer derartigen Aufstellung ist unbestritten und bedarf keiner weiteren Interpretation. Die allgemeine Lesbarkeit und das allgemeine Verständnis sind dabei zum Unterschied zur künstlerischen Aussage eines Werkes eindeutig. Was passiert, wenn ein solches „Reglement“ gebrochen wird, scheint uns Richard Fleissner, ehemaliger Punk-Musiker, Bildhauer, Maler, Zeichner und Poet, zu fragen.
Im vorliegenden Katalog listet er seine bis zum Jahr 2000 produzierten zweidimensionalen Arbeiten auf. Er folgt dabei nur scheinbar den Regeln eines allgemein gültigen 4Verksverzeichnisses“. Die Aneinanderreihung der in höchstem Maße poetischen Titel und die individuellen Anmerkungen zu einzelnen Arbeiten sowie der oftmalige Wechsel der Ordnungsstruktur lassen den Text literarisch erscheinen. Im Leser entstehen plötzlich Bilder, imaginäre visuelle Zusammenhänge. die mit den tatsächlichen Bildern zwar in Verbindung stehen können. Aber nicht notwendigerweise übereinstimmen.
Der Künstler appelliert an unser visuelles Bewusstsein und bietet dem Leser ein .‚Ordnungssystem“ für die jeweiligen imaginären visuellen Möglichkeiten an. Gleichzeitig gibt er dem Rezipienten einen Einblick in seine eigene künstlerische Praxis. Im Moment des Malens oder Zeichnens ordnen sich seine eigenen visuellen Erlebnisse, die gleichermaßen von vorhandenen Bildwelten (Medien, Kunstgeschichte etc.) ausgehen, wie auch von erdachten Vorstellungen. Fleissner nennt diesen Vorgang „Einbilden“ — im Sinne von „Bild-werden-lassen“. Die Wucherungen von Figuren und Gegenständen in seinen Zeichnungen streben manchmal nach einer gewissen „Ordnung“, um im nächsten Moment weiter wuchern zu können. Nur die technischen Grenzen wie bspw. die Blattgröße stoppen den manischen Vorgang. Diesen Grenzen entzieht sich die Komposition oft durch extreme Formendichte, die ins Abstrakte reicht und die Lesbarkeit auflöst. Somit führt uns Richard Fleissner an ein grundsätzliches Dilemma heran: Wir streben nach Ordnungssystemen. denn wir haben diesen Vorgang in unserem Bewusstsein gespeichert, vollführen aber im Gegenzug einen ständigen „Befreiungskampf“. Im Sinne Paul Feyerabends lautet die Frage: wie lockern wir die bestehenden Mechanismen auf, wie lösen wir sie von den Traditionen, denen sie einen ungerechten Vorteil geben? (2)In diesem Sinne ist dieses Werksverzeichnis und damit Richard Fleissners Kunst im Allgemeinen zu verstehen.
(1) Paul Feyerabend, „Erkenntnis für freie Menschen — veränderte Ausgabe“, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, Seite 27
(2) Feyerabend a.a.O., Seite 22