"Die Fotografie ist unser Exorzismus. Die primitive Gesellschaft hatte ihre Masken, die bürgerliche Gesellschaft ihre Spiegel, wir haben unsere Bilder."
Jean Baudrillard, 1998
Die Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz zeigt die erste Ausstellung von Jean Baudrillard, die mit ca. 90 Exponaten einen Überblick über sein künstlerisches, fotografisches Werk gibt. Dazu erscheint ein Buch, das neben einem umfangreichen Bildteil auch die gesammelten Texte von Baudrillard zur Theorie der Fotografie enthält.
Der Philosoph Jean Baudrillard gehört zusammen mit J. F. Lyotard, J. Derrida, M. Foucault, J. Lacan, P. Virilio zu den einflußreichsten französischen Denkern der Gegenwart. Insbesondere in den 80er und anfangs der 90er Jahre übte er auf die Kunst einen enormen Einfluß aus. Neben seinem philosophischen Werk und dessen Wirken auf die Kunst ist Baudrillard selbst künstlerisch tätig gewesen. Seit ca. 12 Jahren fotografiert er unregelmäßig auf seinen vielen Reisen und seit ca. 6 Jahren besonders intensiv. Baudrillard sieht seine künstlerische Tätigkeit nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Philosophie. Im Gegenteil das, was er nicht kommentieren will, fotografiert er, und das, was er fotografiert, entzieht sich dem Schreiben.
Was fokusiert das Auge des Philosophen? Baudrillards Aufmerksamkeit erregt "das System der Dinge”, wie der Titel seines ersten Buches von 1968 lautete. Die Phänomenologie der Wahrnehmung erstreckt sich auf die Phänomenologie der Dinge. Baudrillards Auge flaniert über die Gegenstandswelt. Er sucht aber dort nicht die dramatischen Momente und entscheidenden Augenblicke, sondern die Parerga, wie Kant die Nebensächlichkeiten der Ästhetik nannte. Die Parerga der Phänomene bilden die Bausteine seiner Ästhetik. Dabei steht Baudrillard in einer bestimmten französischen Tradition des Understatement, von Cartier-Bresson bis Doisneau, welche ebenfalls der Versuchung widerstanden, mit ihren Fotos menschliche Situationen zu analysieren und zu kommentieren. Baudrillard fotografiert aber nicht soziale Beziehungen, sondern objktuale. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Baudrillard eine in sich ruhende Gegenstandswelt zeigt. Gleichzeitig spürt man eine gewisse Melancholie, welche die Lakonik des fotografischen Blicks begleitet. Der Lakonismus verhindert die Verwandlung der alltäglichen Gegenstände in einen Zauber der Poesie, jene bekannte Gefahr, welcher die meisten Fotokünstler erliegen. Der beinahe feindlichen Übernahme der Fotografie durch die Kunst begegnet Baudrillard mit der Gelassenheit des neutralen Objektivs. Unaufdringlich gibt der fotografische Apparat den Dingen ihr Erscheinungsprofil und dem Bild seine Charakteristik. Dadurch erhält auch jener Rest der Welt, der sich normalerweise den aufgeregten Augen der Künstler und Sensationsfotografen entzieht, aber die Majorität des Universums bildet, die Farbigkeit und formale Eindringlichkeit, den er verdient. Der fotografische Blick ruht buchstäblich auf der Oberfläche der Gegenstände und zelebriert deren Erscheinungen für das Auge. Dadurch entstehen sehr farbige, sehr komponierte Ausschnitte aus der Wirklichkeit, welche diese aber selbst anbietet, ohne Arrangement und Inszenierung durch den Fotografen. Auf das Verweilen folgt das Verschwinden. Der philosophische Blick durchdringt nämlich die Oberfläche und erkennt die Bedrohung des Verschwindens der Gegenstände. Die Erscheinungen der Gegenstände spiegeln gleichzeitig ihr Verschwinden. Einer Ästhetik der Erscheinung pariert eine Ästhetik des Verschwindens. Dem Exorzismus der Dinge, dem Vertrauen in die Dingwelt, folgt der Kollaps, das Mißtrauen gegenüber dem Bild. Der Schein der Zeichen rettet dennoch die Erscheinungen der Dinge vor dem Verschwinden. Die Epiphanie triumphiert in Baudrillards Fotografie über die Phänomenologie und die Phänomenologie bildet den Rahmen für eine melancholische Kritik der Epiphanie. Der Lakonismus der Dinge ist der Grund für ihre Schönheit. Diese Schönheit fotografiert Baudrillard auf lakonische Weise. Dadurch wird er zum Fotografen der Dingwelt par excellence. Ohne das Pathos der Geschichte, ohne die konstruierte Sachlichkeit oder Inszenation der Kunstfotografie betreibt Baudrillard erstmals den Sachen selbst angemessene Sachfotografie. Seine Dingfotografie wird durch ihre reduzierte Ästhetik den Dingen selbst erstmals gerecht. Auf den Rückspiegeln amerikanischer Autos sthet der Satz: "Objects in this mirror are closer than they appear". Bilden die fotografischen Bildnisse einen Horizont, in dessen Spiegel die Objekte verzerrt erscheinen? Es ist zumindes signifikant für die Wahrnehmung des Philosophen, daß er diesen Satz, der auf alltäglichen Objekten massenweise zu lesen ist und der der Warnung dient, als Leitmotiv für die Wahrnehmung von Bildern nimmt. Welcher Natur ist der Spiegel der Fotografie? Bilden die fotografischen Bildnisse einen Spiegel, in dem der Horizont der Objekte verkürzt erscheint? Ist der Mensch ein Spiegel und die Dinge sind uns näher als sie uns erscheinen oder erscheinen sie uns bloß näher als sie sind? Vermisst Baudrillard mit seinen Fotografien nicht nur den Horizont der Objekte, sondern auch die Distanz zwischen den Menschen und den Objekten?