"Stillleben" sind Darstellungen "stiller", also regungsloser Dinge, die vom Künstler bewusst nach ästhetischen Kriterien neu angeordnet werden. Objekte eines Stilllebens können Gegenstände aller Art sein: Obst, Blumen, (meist tote) Tiere, Fische, Kücheningredienzen, Geschirr, Bücher, Musikinstrumente, Gläser, Silberwaren, Zigarettenstummel, Schuhe, Jagdwaffen, technische Gerätschaften etc. Das, was man schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts in holländischen Inventaren als "stilleven" bezeichnete, ist der Beginn der visuellen Darstellung dieser "nature morte", bei der es darum geht, das geheime Leben der Dinge offenbar zu machen.
Treffend schreibt Michel Foucault in seinem berühmten Schlusssatz der "Ordnung der Dinge" (1966), dass "der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand". Das Subjekt kann nicht mehr - wie in der Philosophie der Neuzeit - Ursprung aller Erkenntnis und Wahrheit sein. Die technologischen Entwicklungen laufen in diese Richtung und lassen eine derartige Perspektive zu. Andererseits votiert Jean Baudrillard seit 1968 für "das System der Dinge", für den Horizont der Dinge. Eine neue Sicht auf die Dinge ist notwendig. Die Welt der Dinge, ein Kosmos des Übersehenen, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Wir sind aus den Bildern verschwunden und die vielfach fälschlicherweise für unbewegt oder tot gehaltene Natur beginnt ihr Eigenleben zu entwickeln.
Das Stillleben rangierte stets ganz unten in der Hierarchie der Malerei. Die Aufmerksamkeit galt der Historienmalerei bzw. der "grande manière". Neben den "Vanitas-Stillleben", die mit ihren ausgeklügelten Symbolen auf die allgegenwärtige Vergänglichkeit hindeuten, wird in dieser Gattung in der wissenschaftlichen Rezeption, wie z.B. bei Erwin Panofsky, ein "versteckter Symbolismus", eine Hülle der Erscheinungen verborgener religiöser Tiefenstrukturen geortet. Obststillleben mit Weintrauben, Birnen und Äpfeln enthielten in positiver Interpretation Anspielungen auf das Blut Christi, die Süße der Menschwerdung Christi, die Schale der Walnuss bedeutet das Kreuzesholz, während die kristallene Transparenz des Glases die Reinheit und die Jungfräulichkeit Mariens meint, so wie Tiere - Kaninchen, Affen, Papageien - in religiösen Darstellungen als sinnliche Attribute zu verstehen sind.
Dem Stillleben haftet, durch die Darstellung der idealisierten Natur (Früchte, Blumen, Jagdwild, etc.), auch die Aura des Hedonistischen, der Fetischisierung des Wohllebens an. Kein kritischer Gedanke lässt sich primär damit verbinden. Die Dekorfunktion lag aber selten im Zentrum der künstlerischen Intentionen. Wenn man Michail Bachtins Exkurs über das Essen in seinem Buch über Rabelais (1965) auf das Stillleben anwendet, beginnt man sogar soziale Ansätze innerhalb dieser Kunst zu erkennen: "Die Arbeit triumphiert im Essen. Der Kontakt mit der Welt in der Arbeit, der Arbeitskampf des Menschen endet mit dem Essen, dem Verschlingen des erbeuteten Teils der Welt."
Durch die optische Wiedergabe von Alltagsgegenständen (Büsten, Brillen, Globen, Bücher, Messgeräte, etc.) hatte man die Idee einer Vervollständigung eines wissenschaftlichen Katalogs im Auge, was als Beweis einer sich entwickelnden Objektivierung gelesen werden kann. Der formale Ansatz der Stilllebendarstellungen ist geprägt von einer obsessiven Etudenhaftigkeit, um die Meisterschaft in der Illusion, die Beherrschung dieses Sujets zu erreichen. Der narrative Inhalt tritt zurück. Wissenschaftliche Darstellung (von Pflanzen oder Tieren), Virtuosität in der malerischen Umsetzung verschiedenster Materialien (Stoffe, Tapisserien, Metalle, Gläser, Spiegel) bestimmte das Stillleben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Man könnte in manchen Fällen sogar von einem Abstraktionsvorgang sprechen, in dem Sinne, dass sich der Gegenstand bzw. der Inhalt in der Wahrnehmung immer weiter zurückentwickelte und zahlreiche KünstlerInnen in Malerei und Grafik, bzw. ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch in der Fotografie, ihre formalen Qualitäten direkter und unmittelbarer zum Ausdruck brachten. Trotz aller Emotionalität, die mit der Darstellung von Blumen- und üppigen Tischdekors in Interieurs einhergeht, bemühte man sich also um Objektivität, wie z.B. im Stimmungsimpressionismus.
Mit der internationalen Moderne, mit Picasso und Braque, wurde diese Gattung der Malerei bis zur Auflösung von Form und Perspektive auf vielfältige Weise vorangetrieben, wie auch z. B. bei Alfred Wickenburg. Seit damals bis zur Gegenwart haben KünstlerInnen vielfach mit Materialien bzw. Gegenständen gearbeitet, die gleichsam ein Eigenleben haben. Die "Eat-Art" hat noch die Dominanz des alles verschlingenden Monsters Mensch im Zentrum, lässt aber die Reste der Tat als Relikt zurück. Organische Stoffe sind der Verwesung ausgeliefert, kinetische Objekte machen Bewegungsabläufe sichtbar (Dieter Roth, Daniel Spoerri) etc. Das kann bis zu höchst komplexen Strukturen im Zusammenhang mit neuester Technologie reichen, die eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, und zusehends von externen Impulsen unabhängig wird.
Die Sammlung der Neuen Galerie Graz am Landesmuseum Joanneum bietet mit ihrem zeitlichen Bogen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart hervorragende Möglichkeiten, diese Entwicklungen darzustellen. Nicht nur der Malerei und Grafik soll hier die Aufmerksamkeit entgegen gebracht werden. Bereits vor dem Beginn der Moderne gab es durch die Erfindung der Fotografie eine Erweiterung der visuellen Möglichkeiten, die sich bis zu denen der neuen Medien (Film, Video, Computer) enorm vergrößerten. Die Ausstellung soll einen Versuch unternehmen, von der Klischeehaftigkeit wegzuführen. In der Verbindung von traditionellen Bildwerken und solchen der allerjüngsten Zeit sollen aufschlussreichere Perspektiven auf ein unterschätztes Genre innerhalb der Kunst ermöglicht werden.