Evolution und Phylogenie von Cyprideis (Ostracoda)

 

Beschreibung:

Durch Langlebigkeit und eingeschränkte Verbindung zu angrenzenden Ökosystemen kommt es in Langzeitseen zur Radiation verschiedener Organismengruppen, was zu außergewöhnlicher Diversität, starkem Endemismus und sehr plastischer Morphologie führt. Damit sind Langzeitseen besonders geeignet um evolutionäre Prozesse zu studieren. Untersuchungen an rezenten Langzeitseen (z.B. Tanganyika See, Baikal See) beeinflußten auch Konzepte der Evolutionsbiologie entscheidend. Neben vielen anderen Organismen, entwickelten auch Ostracoden eine ausgeprägte Differenzierung in diesen Seen. Diese aquatischen Crustaceen mit zweiklappigen Calcitschalen besitzen ein hohes Fossilisationspotential und sind in Seesedimenten sehr häufig. Damit sind sie für Studien über geologische Zeiträume hinweg besonders attraktiv, allerdings beschränkt sich die Taxonomie auf ihre Hartteile und damit auf den Phänotyp.

Im Miozän waren Paläo-Langzeitseen, wie der Pannon See (Zentraleuropa) und der Pebas See (westliches Amazonien), Hot-spots der Diversifikation bei Ostracoden. Viele dieser Taxa basieren auf qualitativen Beschreibungen der Morphologie. Die morphologische Plastizität wurde wenig berücksichtig. Aus diesem Grund fehlen fundierte Phylogenien, überzeugende biostratigraphische Zonierungen und paläo(bio)geographische Rekonstruktionen. Um dies zu verbessern sollen Ostracodenvergesellschaftungen in hochauflösenden Proben untersucht werden (5 mm vertikaler Probenabstand, Zeitumfang Jahrhunderte bis Jahrzehnte). Zusätzlich werden verschiedene Paläoumweltindikatoren erfaßt (z.B. Korngröße, Karbonat-, Kohlenstoff- und Schwefelgehalt, stabile Isotopen-Verhältnisse (Sauerstoff, Kohlenstoff) sowie magnetische Suszeptibilität und Gamma-Strahlung). Die Gattung Cyprideis soll mit Methoden traditioneller and geometrischer Morphometrie, aber auch mittels qualitativer Merkmale und unter Einschluß juveniler Stadien analysiert werden. Cyprideis ist das bestuntersuchte Taxon rezenter Ostracoden, dominiert in aberranten Environments und zeigt große intraspezifische Variabilität. In beiden Seen, Pannon See und Pebas See, wurden dutzende Arten beschrieben und für biostratigraphische und paläo(bio)geographische Rekonstruktionen herangezogen. Durch die Evaluierung morphologischer Veränderungen in hochauflösenden Proben (insgesamt einige Millionen Jahre umfassend) sollen mögliche Auslöser dafür erforscht und evolutionäre Abläufe rekonstruiert werden. Die beiden Seen (Pannon, Pebas) sind ideale Orte um diese Prozesse in zwei geographisch völlig unterschiedlichen Gebieten, aber ähnlichen Paläoenvironments zu testen. Unsere Untersuchungen sollen zu einer verbesserten Artdiagnose, einem tieferen Verständnis von Speziation und einer fundierten Rekonstruktion der Phylogenie führen. Von besonderem Interesse ist die Auflösung evolutionärer Muster im Sinne von Parallel- und Iterativevolution versus Konvergenz. Dieses Projekt soll dringend erforderliche Basisdaten für allgemeine Fragen evolutionärer Prozesse liefern.

 

Endbericht:

Während des Miozäns prägten zwei riesige, langlebige Ökosysteme Mitteleuropa (Pannon See; Alter: ~12–6 Mio. J.) und W-Amazonien (Pebas „See“; Alter: ~17–9 Mio. J.). In beiden entwickelten einige Ostrakodengruppen (mm-große, 2-klappige Krebstiere) rasch neue Arten. Besonders die „Brackwasser-Gattung” Cyprideis erlebte eine bedeutende Radiation, die zu dutzenden neuen, endemischen Arten führte. Da verkalkte Ostrakodenschalen leicht fossil erhalten bleiben, konnten morphologische Untersuchungen evolutionäre Prozesse im Detail – Millionen Jahre vor heute – nachvollziehen. Mögliche umweltbedingte Auslöser konnten zwar nicht direkt gemessen, aber über eine Kombination sedimentologischer und geophysikalischer/-chemischer Methoden abgeleitet werden.

Wir untersuchten zwei Tongruben (Mataschen/Steiermark, Alter: ~11,3 Mio. J.; Hennersdorf/Niederösterreich, Alter: ~10,4 Mio. J.) in denen mehrere Zehnermeter an Pannon See Sedimenten aufgeschlossen sind (≈ zehntausende Jahre). Umweltveränderungen (Wassertiefe, Salz- und Sauerstoffgehalt, Beeinflussung vom Land), gebunden an klimagesteuerte Seespiegelschwankungen, konnten im Detail nachvollzogen werden. Die hochauflösende Beprobung (5 mm Intervalle) eines 2,3 m mächtigen Profilteiles (Mataschen) erlaubte die Rekonstruktion derartiger Veränderungen und ihrer Auswirkungen auf die Lebewesen mit einer zeitlichen Auslösung von nur wenigen Jahren. Eine morphologische Analyse von Cyprideis-Klappen weist auf die graduelle Evolution einer neuen Art hin, vielleicht verbunden mit physiologischen Anpassungen an steigende Salinität.

In W-Amazonien wurden Aufschlüsse entlang von Flüssen (z.B. Eirunepé/Brasilien) und Bohrungen (Brasilien, Amazonia) untersucht. Basierend auf dem sedimentologischen Befund, war der Pebas „See“ nicht ein einziger, langlebiger See sondern ein Mosaik von kurzzeitigen, seichten Seen, Sümpfen und Flüssen (z.B. Eirunepé-Gebiet, Alter: ~ 9 Mio. J.). Ostrakodenvergesellschaftungen und geochemische Ergebnisse (stabile Isotope: δ 18O, δ 13C) zeigten, dass sich Cyprideis völlig an Süßwasserbedingungen angepasst hatte. Ihr Vorkommen ist damit kein definitiver Beweis für marine Einflüsse und eine Anwendung des Aktualitätsprinzips problematisch. Die Analyse eines 400 m langen Bohrkernes (Alter: ~13– 11,5 Mio. J.) erlaubte die Revision von ~2/3 aller bisher beschrieben Cyprideis-Arten von W-Amazonien. Diese Ergebnisse unterstreichen ihre Fähigkeit Artenschwärme zu bilden. Meist übersteigt ihr Anteil 90 % an der Ostrakodenfauna. Bis zu 12 Arten kommen gemeinsam in einer Probe bzw. einer Fossilpopulation vor. Wir schließen, dass ein lokal instabiles, aber auf regionaler Ebene langlebiges Feuchtgebiet sowie besondere prä-existente Anpassungen (ökologische Toleranz, geschlechtliche Vermehrung, Brutpflege) ihre erfolgreiche Ausbreitung sowie ihre Diversifizierung in W-Amazonien ermöglichten.

 

FWF-Projekt P 21748
Laufzeit: 01.09.2009-31.08.2014
Leiter: M. Gross, Co-Leiter: W.E. Piller, Mitarbeiter (Doktoranden): F. Gitter, M. Caporaletti

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