Freeing the Voices

Freeing the Voices erforscht die Vielschichtigkeit von Stimmen – von Marina Abramovićs menschlichem Schrei bis zur kaum wahrnehmbaren Stimme einer Mücke in Tao G. Vrhovec Sambolecs Werk. Die Ausstellung zeigt, dass Zuhören mehr ist als bloßes Hören: Es erfordert Aufmerksamkeit und Bewusstsein für menschliche und nicht-menschliche Klänge und öffnet neue Perspektiven auf Kommunikation und Präsenz.

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Warum eine Ausstellung über die Stimme wichtig ist

In einer Welt voller Krisen, Kriege und schwindender Meinungsfreiheit breitet sich Schweigen aus, während ein ständiges Informationsrauschen echte Kommunikation übertönt. Dies führt zu Ohnmacht und Kontrollverlust.

Es reicht nicht mehr, nur festzustellen, dass unsere Stimmen oft fremdbestimmt sind – es ist Zeit zu handeln, selbst wenn es nur durch ein Schreien oder Murmeln geschieht.

Werke in der Ausstellung

Sehr dunkles Foto im Querformat in dem ein Frauenchor zu sehen ist.

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Noor Abed

Keeping Together In Time, 2016, Video; VHS, Farbe, Ton, 5:54 min; Bewegungsnotationen; sieben Zeichnungen mit Stift

Noor Abed arbeitet an der Schnittstelle von Performance und Film. Sie erforscht das emanzipatorische Potenzial palästinensischer Folklore, traditioneller Rituale und Mythen. Für Abed ist all dies eine „Performance“ der Gemeinschaft, die mit Erzählungen von Überleben und Solidarität verbunden ist – sowohl historisch als auch in Bezug auf die Aktivierung dieses immateriellen Erbes in einer Zeit, in der das Überleben einer ganzen Nation auf dem Spiel steht.
 

Keeping Together In Time zeigt das Video einer Gruppe von Menschen in Palästina, die in einem Zustand endloser Vorbereitung auf eine kommende Handlung kontinuierlich singen. Inspiriert von „Kampfrufen“, untersucht das Werk den potenziellen Einfluss geteilter Gefühle auf die Entstehung und Erhaltung einer Gemeinschaft. Es verweist darauf, dass eine solide Verbindung zwischen dem Konzept der „Synchronie“ (synchroner Rhythmus in Bewegung, Klang oder Stimme) und sozialem Handeln erforscht werden kann.
 

Dieses und andere Werke von Abed werden von sozialen Bewegungen und dem alltäglichen Gemeinschaftsleben beeinflusst. Abed untersucht Kunst als eine Form des Widerstands, die über den binären Modus von Aktion und Reaktion hinausgeht. Gemeinsames Singen und kollektive rhythmische Bewegungen lassen hier geteilte Gefühle entstehen, die für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft von großer Bedeutung sind.

 

Courtesy der Künstlerin

s/w Foto auf dem Marina Abramović liegend zu sehen ist

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Marina Abramović

Freeing the Voice, 1975, Ein-Kanal-Video, Betacam SP, s/w, mono, 35:26 min

Marina Abramovićs Kunst kann als eine Kunst der Überwindung beschrieben werden, eine Überwindung von Grenzen, von Regeln, von Ängsten, von Sicherheiten. Nur wenn diese überwunden sind, kann man wirklich frei sein. In ihren Performances setzt sie sich und ihr Publikum physischen und psychischen Grenzsituationen aus, Situationen, in denen sich (Selbst-)Kontrolle in Kontrollverlust verwandelt, sie Risiken eingeht, die potenziell bis zum Tod führen können. Ihr Körper ist dabei Subjekt und Medium zugleich, im Versuch, sich von ihren Ängsten zu befreien, die ein zentraler, immer wiederkehrender Kulminationspunkt ihres gesamten Werkes sind: die Angst vor Schmerz, die Angst vor dem Leiden und die Angst vor dem Tod.  Oft sind es ganz einfache Handlungen des täglichen Lebens wie Sitzen oder Liegen, Sprechen oder Nicht-Sprechen, die die Künstlerin auf der Suche nach emotionaler und spiritueller Transformation ritualisiert und dabei immer wieder bis zur totalen Erschöpfung geht.
 

Freeing the Voice ist eine von drei frühen, für das weitere Werk von Marina Abramović ebenso wie für die Performance- und Körperkunst als solche prägenden Performances, die sich mit der Erkundung und Überschreitung von Grenzen beschäftigten. Die Künstlerin liegt auf dem Rücken, den Kopf in den Nacken gestreckt, und schreit ununterbrochen. Anfangs ertönt ihre Stimme tief und stark, wird im Laufe der Performance höher und höher, brüchiger, bis sie schlussendlich vollständig versagt. Insgesamt dauerte die Performance im Student Cultural Center in Belgrad drei Stunden. Abramović nutzt in diesen drei Performances, die sie in diesem Jahr durchführte, ihren eigenen Körper als Material und Projektionsfläche für einen Befreiungsprozess der drei wichtigsten menschlichen Ausdrucksmittel: Stimme, Geist und Körper.

 

Courtesy Marina Abramović Archives und LI-MA Amsterdam

Videoausschnitt aus einem Gebetshaus, in dem eine gelbe verpixelte Schrift zu sehen ist, die den Wortlaut human zeigt.

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Lawrence Abu Hamdan

Loud Speakers (remix), 2024, Installation; 2 Videos, Farbe, Ton, Karaoke-Maschinen

Lawrence Abu Hamdan ist Forscher, Filmemacher, Künstler und Aktivist, der die Rolle des Klangs in juristischen Ermittlungen und politischen Diskursen untersucht. Seine Forschung dient der Förderung von Menschenrechts- und Umweltarbeit.
 

In seinem Werk Loud Speakers (remix) geht es darum, die Freiheit zu hören. Es bezieht sich auf die Auseinandersetzungen rund um die Definition von Lärm in einer der lautesten Städte der Welt – Kairo. Die Arbeit dokumentiert die Intervention des Künstlers im Kampf um die Klanglandschaft der Stadt nach dem Militärputsch von 2013 (dem Ende des Arabischen Frühlings).
 

Damals versuchte die Militärregierung, die letzten Strukturen der Muslimbruderschaft zu zerschlagen, die über Jahrzehnte einen „Schattenwohlfahrtsstaat“ aufrechterhalten hatte. Gleichzeitig wollte sie den Einfluss der Freitagsgebete auf die Bevölkerung einschränken. Unter dem Vorwand der Lärmkontrolle wurde der Inhalt der Freitagspredigten stark reguliert – per Gesetz mussten die Sheiks fortan jeden Freitag von der Regierung verfasste Schriften verlesen.
 

Doch an einem Freitag im Jahr 2014, in offenem Widerstand gegen diese drakonischen Maßnahmen, entschieden sich zwei der 130.000 Moscheen Kairos – auf Anregung des Künstlers – gegen das staatlich vorgegebene Thema der Himmelfahrt des Propheten. Stattdessen hielten sie eine Predigt zum Thema Lärmbelästigung.
 

Sheikh Ahmad und Sheikh Sayed durchbrachen mit ihren Predigten die Geräuschkulisse der Stadt und erlangten die Deutungshoheit darüber zurück, was als Signal und was als Lärm gilt. Sie taten dies mit maximaler Lautstärke – nicht nur für die Gläubigen in der Moschee, sondern auch für alle Passant*innen, die von den Lautsprechern der Moscheen auf der Straße beschallt wurden.

Sheikh Sayed, 10:05 min
Sheikh Ahmad, 9:48 min
Courtesy des Künstlers und der Sfeir-Semler Gallery Beirut/Hamburg

Installationsansicht

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Babi Badalov

Curtain Poetry, 2025, Installation; Acryl auf Textil, Maße variabel

Babi Badalov ist ein in Frankreich im Exil lebender Reisender, Migrant, Flüchtling, ein aserbaidschanischer Künstler. Die Migration von Wörtern in seinen Zeichnungen, Collagen und seiner visuellen Poesie spiegelt seine eigene Migration durch verschiedene kulturelle, historische und ideologische Hintergründe wider – von der ehemaligen Sowjetunion über die Vereinigten Staaten, Europa, Asien bis hin zum Nahen Osten. Als ewiger Nomade ist Badalov ständig mit der Absurdität und den Limitationen der Sprache konfrontiert. Er weiß, dass die Macht des Wortes von geopolitischem Status, Schriftform und Aussprache bestimmt ist. Badalov beschäftigt sich weniger mit Fragen der kulturellen Integration als mit einer Sprache, die sich jenseits normativer Regeln bewegt und dadurch nur als Werkzeug gegen Unterdrückung und Dominanz fungieren kann.
 

Curtain Poetry ist eine Installation, die Besucher*innen von beiden Seiten des Vorhangs „lesen“ können. Die wellenartige Struktur betont dabei die Instabilität von Sprache und Wort als Basismaterial für vielfältige Kompositionen und Dekompositionen. Die Bedeutung der Worte – ob verstehbar oder nicht – ist so gestaltet, dass sie eine Botschaft enthalten, die über bestehende Sprachen und Kulturen hinausgeht. Manche Wörter sind auf Russisch in kyrillischer Schrift geschrieben, andere auf Englisch, und wieder andere sind einer bestehenden Sprache nur ähnlich. Andere sind wie persische Poesie von rechts nach links geschrieben, jedoch in lateinischen Buchstaben.
 

Das Wort steht im Zentrum seines Werks – das Wort als visuelles Bild, als Klang und individuelle Stimme, je nachdem, wie es ausgesprochen wird. Konstant bleibt dabei die Schrift oder besser gesagt die Zeichnung, die an orientalische Ornamentik erinnert.
 

Badalov erschafft keine neue Sprache, doch in der Aufgliederung verschiedener Sprachen sowie in der visuellen und akustischen Kraft von Buchstaben und Silben sucht er nach Freiheit – nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere. Wichtige Referenzen sind die dadaistischen Strategien der freien Assoziation, der Anarchismus von Michail Bakunin und der Nihilismus Friedrich Nietzsches.

Courtesy des Künstlers

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selma banich

The Last Howl, self-portrait, 2022, Stickerei auf Taschentuch, 39 x 37 cm

Die künstlerische Praxis von selma banich basiert auf explorativer, prozessorientierter und aktivistischer Arbeit. Sie ist politisch vom Anarchismus und Feminismus inspiriert und engagiert sich in lokalen und transnationalen Solidaritätsinitiativen, die sich mit feministischen, antifaschistischen, Arbeiter*innen- und migrationsbezogenen Themen beschäftigen. Zudem ist sie praktizierende Kunsttherapeutin.
 

The Last Howl ist ein auf das Taschentuch der Großmutter gesticktes Selbstporträt der Künstlerin und stellt eine zutiefst persönliche Reise durch Depression, Burnout und den Kampf um mentale und spirituelle Balance dar. Der antifaschistischen Großmutter Nefisa Muradbegović gewidmet, reflektiert das Werk über vererbtes Leid, kollektive Traumata und die Kosten von Widerstandskraft in einer Welt voller Grausamkeit und Unterdrückung. Mit dieser Arbeit anerkennt selma banich Zerbrechlichkeit, ehrt Verletzlichkeit und weist die Normalisierung von Leid entschieden zurück.
 

Courtesy der Künstlerin

Erfahrungsorientierter Workshop: Howls
Silhouette einer Frau vor einer Wandinstallation

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CO2 ... a couple of artists

Undecidable Question, 2022, Video- und Soundinstallation

„CO2 … a couple of artists“ ist eine kollaborative Formation, welche die Choreografin Nikolina Pristaš und den Dramaturgen Goran Sergej Pristaš in eine Reihe von Begegnungen mit Künstler*innen, Expert*innen und Studierenden verwickelt – in diesem Fall mit dem bildenden Künstler Marko Tadić, der Videokünstlerin Hrvoslava Brkušić und dem Klangkünstler Hrvoje Nikšić. Ihre Arbeit konzentriert sich darauf, Modalitäten der Aufführung, des Präsentierens und Beobachtens zu erforschen, die etablierten Beziehungen zwischen Performance und Publikum aufbrechen, um neue Potenziale für das gesellschaftliche Leben zu entdecken.
 

Undecidable Question untersucht unter anderem die potenzielle Kraft des Murmelns, einer Art vorsprachlichen Zustands, die zukünftige Erkenntnisse verspricht. Die Installation verweist auf soziopolitische Wendepunkte im ehemaligen Jugoslawien, deren Akteur*innen die Massen und deren heterogene Stimmen waren. Diese wurden später in zunehmend einheitlichen Mythen artikuliert, die sich dann zu verschiedenen nationalen Überlieferungen verdichteten.
 

Im Jahr 2006 wurden Nikolina und Sergej Pristaš von der Zeitschrift Maska und der Moderna galerija in Ljubljana eingeladen, ein Werk einzureichen, das 2023 realisiert und in die Sammlung der Moderna galerija aufgenommen werden sollte. Sie schlugen vor, drei Massenversammlungen aus der ehemaligen jugoslawischen Vergangenheit in Zagreb zu rekonstruieren: den Einzug der Partisanen in Zagreb (1945), die Studierendendemonstrationen (1968) und die letzte Verabschiedung von Titos sterblichen Überresten (1980). Das Projekt trägt heute den Titel Undecidable Question und nutzt archivierte Tonaufnahmen von Debatten zwischen Aktivist*innen und Künstler*innen aus dem BADco.-Projekt Institutions Need to Be Constructed (2016).
 

Undecidable Question unterbricht die Mythen, die auf den Stimmen der Vergangenheit aufgebaut sind, und entdeckt in ihnen eine Vitalität – oder eher die Möglichkeit, den kollektiven Willen zur Erreichung des Unmöglichen zu wiederholen. In den unsicheren Zeiten von heute versucht Undecidable Question, die Bedeutung von Gemeinschaft und des Wortes „wir“ mithilfe der Zuseher*innen und Zuhörer*innen neu zu aktivieren.
 

Courtesy der Künstler*innen
Produktion: The New Post Office und Domino Cooperative

Stimmlippen (auch: Stimmfalten)

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VALIE EXPORT

I turn over the pictures of my voice in my head, 2008, Video, Farbe, Ton, 11:38 min

Als Pionierin der feministischen Kunst untersucht VALIE EXPORT seit den späten 1960er-Jahren kritisch und provokativ die Rolle der Frau in der Gesellschaft und setzt sich mit Mechanismen der Massenmedien ebenso wie der Kunst auseinander. Das Sprechen der Frau in der Öffentlichkeit und die weibliche Stimme als eine Konstruktion gesellschaftlicher Zuschreibungen sind in ihrem Werk ein wiederkehrendes Thema.


Das Video I turn over the pictures of my voice in my head entstand aus der Performance The voice as Performance, Act and Body, die VALIE EXPORT 2007 auf der Biennale von Venedig zeigte. Der Film zeigt in Großaufnahme die Glottis – die Stimmritze – im Rachen der Künstlerin. Wir sehen die raue Oberfläche der rosa Schleimhäute und das Öffnen und Schließen der Stimmritze, des Spaltes zwischen den beiden Stimmfalten im Kehlkopf, während die Künstlerin einen selbst verfassten Text über die Stimme – ihre Stimme – liest. Hörbar beeinträchtigt wird sie dabei von dem Laryngoskop, einem medizinischen Gerät zur Untersuchung des Kehlkopfs, das für die Aufnahme in ihre Kehle eingeführt wurde. Dieses bringt ein Bild des Inneren des Körpers nach außen, „das Bild vom Anfang der Stimmbildung, wenn der Atem aus dem Brustkorb dringt und sich die Glottis öffnet und schließt, bevor überhaupt die Laute durch die Architektur des Mundes geformt werden“, wie EXPORT selbst schreibt. Mit zittriger und teils brechender Stimme reflektiert sie über die Stimme, während deren körperlicher Artikulationsprozess visuell sichtbar ist: „Sie ist nicht mein Eigen. Sie spricht von selbst“, kritisiert sie die Entsubjektivierung der weiblichen Stimme. Der technisch-medizinische Eingriff verweist auf die Gewalt und Repression, die damit einhergeht, und ihre hörbare Anstrengung kann sinnbildlich für die Schwierigkeit gelesen werden, als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft eine Stimme zu haben, gehört zu werden.

 

Kamera Laryngoskop: Erhard Suess, Courtesy der Künstlerin und sixpackfilm

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Farhad Farzali

Speech Therapy, 2020, Vier-Kanal-Klanginstallation; handgeschriebener Text, Lautsprecher, 4:08 min

Farhad Farzali arbeitet mit Klang, traditioneller und zeitgenössischer Musik sowie Folklore. Seine Werke sind stark von der Erforschung unterschiedlicher historischer und kultureller Zusammenhänge Aserbaidschans und seiner Nachbarländer sowie von den persönlichen physischen Einschränkungen des Künstlers motiviert.
 

Sein Werk Speech Therapy bezieht sich auf seine Kindheit, in der er über einen langen Zeitraum wegen Stotterns behandelt wurde. Neben der medizinischen Behandlung führte er Sprachübungen aus einem Notizbuch durch, das er vom Freund eines Freundes der Mutter erhalten hatte.  Dieses einzigartige sowjetische Sprachtherapie-Notizbuch aus dem Jahr 1985, gefüllt mit Übungen und Regeln, gehörte einst einem Mädchen im Teenager-Alter, das in Kiew wegen seines Stotterns in Behandlung war.
 

Acht lange Jahre arbeitete Farhad gewissenhaft jeden Tag zwei Stunden an diesen Übungen, alleine in einem privaten Raum. Mit der Zeit begannen die therapeutischen Übungen eine ästhetische Qualität anzunehmen, sich zu rhythmischer Poesie und Mantra-artigen Beschwörungen zu entwickeln. Für seine Klanginstallation verwendete er mehrere Übungen aus dem Notizbuch als Partitur.
 

In dieser Installation hören wir Aufnahmen von Farzalis langen Stimmübungen – die gedehnten Vokale „A, O, U, I, E“ sowie „M“ und „N“ – in einem einzigen Atemzug. Auf zwei Kanälen singt er diese langen Vokale und Konsonanten, wie im Notizbuch vorgeschlagen. Auf den anderen beiden Kanälen rezitiert er wiederholte Silben wie „кр-а, кр-о, кр-у, кр-и; пр-а, пр-о, пр-у, пр-и; д-а, д-о, д-у, д-и“ und so weiter, die seine Mutter dem Notizbuch hinzugefügt hatte, um ihm bei seinen spezifischen Sprachproblemen zu helfen. Alles, was wir hören, ist auch an der Wand des Raums zu lesen, wo Farzali die Übungen aus dem Notizbuch mit Kreide reproduziert hat, um die Erfahrung greifbarer zu machen.
 

Speech Therapy wurde erstmals 2020 in einem Online-Format in der Galerie Barbara Thumm vorgestellt, kuratiert von Thibaut de Ruyter, als Teil eines Lockdown-Projekts, das sich auf Alvin Luciers I Am Sitting in a Room bezieht.

 

Courtesy des Künstlers, beauftragt von Galerie Barbara Thumms „New Viewings“ (2020)

Schwarz-weiß Videoaufnahmen

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Essa Grayeb

My Whole Heart Is With You, 2022, Video, s/w, Ton, 8:49 min

Der palästinensische Künstler Essa Grayeb befragt Erzählungen aus der Vergangenheit, historische Momente des kollektiven Gedächtnisses nach ihrer Bedeutung in der Gegenwart. Ausgehend von gefundenen Materialien, Klängen und Objekten interpretiert er diese im Kontext ihrer Manifestationen in der Populärkultur und verwebt dabei Realität und Fiktion. Oft untersucht er in seinen filmischen Arbeiten ikonische Momente des arabischen Nationalismus und Panarabismus.


Das experimentelle Video My Whole Heart Is With You basiert auf Filmmaterial einer der bedeutendsten und bewegendsten Reden der modernen politischen Geschichte des arabischen Raums: der Rede des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser am 9. Juni 1967, in der er nach der vernichtenden Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel seinen Rücktritt angeboten hatte. Essa Grayeb analysiert die politische Sprache und montiert ausschließlich die Momente der Pausen, des Luftholens, des Innehaltens der 25-minütigen Originalrede zu einer 9-minütigen, alles sagenden Stille. Eine Stille, die mit Spannung, Unsicherheit und Erwartung aufgeladen ist. Wir sehen nur Nassers Mund und davor Mikrofone in Nahaufnahme und haben das Gefühl, weit, vielleicht zu weit, in seine Privatsphäre einzudringen. Essa Grayeb lässt durch seinen künstlerischen Eingriff eine neue, verdichtete Rede des gedemütigten Herrschers entstehen, der um Worte zu ringen scheint. In einer Zeit, in der wir selbst oft mit diesem Gefühl konfrontiert sind, verdeutlicht My Whole Heart Is With You, dass es manchmal keine Worte mehr gibt.

Courtesy des Künstlers

immersive Rauminstallation in grün/blau

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Ida Hiršenfelder (beepblip)

Spiral Fluctuations, 2024

Die Klangkünstlerin und -forscherin Ida Hiršenfelder beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Bioakustik und experimenteller Musik, die sie – einem ganzheitlichen Verständnis von Klang folgend, das über das mechanistische Hören hinausgeht – zu psychogeografischen Klanglandschaften verdichtet. Besonders interessiert sie sich für die Wirkung nicht menschlicher und nicht tierischer Laute und Sprachen.
 

Spiral Fluctuations basiert auf Aufnahmen eines Magnetresonanztomografen (fMRI) mit verschiedenen Aufnahmetechniken. Die Künstlerin übersetzt das akustische und elektromagnetische Spektrum der medizinisch-diagnostischen Methode in eine räumliche Klangerfahrung mit körperlich-physischer Wirkung, die auf einer von den MRT-Sequenzen gebildeten kompositorischen Grundpartitur aufbaut. Die Installation arbeitet mehr mit Emotionen und Empfindungen, als dass sie sich auf eine schematische Vermessung des Körpers beschränkt. Der Klang wird nicht nur auditiv im Ohr wahrgenommen, sondern auch von anderen Sinnen als Schwingung: als Vibration im ganzen Körper oder als Lichtpulsation. So können die Klänge auch – oder sogar besser – von Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen empfunden werden.
 

Ida Hiršenfelder versteht Hören – oder Zuhören – als einen nicht auf die Funktionsweise der Nerven im Innenohr beschränkten geistigen Prozess der Aufmerksamkeit. Der Körper funktioniert dabei als komplexes Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Organen und zwischen dem Organismus und seinem Mikrobiom. Denken wir die Sinne nicht mechanistisch und isoliert, hierarchisch und binär (beispielsweise Gesichtssinne vs. Hörsinn), so wird Klang zu etwas, das wir nicht nur mit unseren Ohren hören, sondern zu etwas viel Fragilerem, Durchlässigerem, Vielseitigerem, zu etwas Haptischem.

Chambers for multisensory listening
rot beleuchtete Rauminstallation

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Saodat Ismailova

Plea, 2021, Video-Installation; 26:08 min, Korpacha, 300 x 169 x 40 cm

Saodat Ismailova ist eine Filmemacherin und Künstlerin, deren Hauptbezugspunkt das kulturelle und spirituelle Erbe Zentralasiens ist, verstanden im Zusammenhang mit der Übergangsperiode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und deren ideologischen Erzählungen. Frauenstimmen spielen eine zentrale Rolle in ihrem Werk, da präislamische Erkenntnisse hauptsächlich von Frauen von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Eine weitere wichtige Tradition in Ismailovas Kunst ist die Filmgeschichte. Sie wuchs in einer Familie von Filmemachern auf und wurde so vom sowjetischen Film stark beeinflusst.
 

In Plea wird ein heilender schamanischer Text über traditionelle Korpacha (gepolsterte Sitz- und Schlafmatten) projiziert. Beim Lesen oder Hören des Textes befindet man sich an der Schnittstelle der Welten von Mineralien, Pflanzen, Tieren, Geistern, Heiligen und Sternen. In einem chaotischen Universum ohne hierarchische Struktur, aber mit einer klaren kreisförmigen Bewegung, die sich von der Ausdehnung der Mikrowelt zur Makrowelt und wieder zurück bewegt.
 

Die Besucher*innen können sich auf die Korpacha legen und den Text über ihren Körper fließen lassen. Eine Frauenstimme und der hypnotische Rhythmus eines Gedichts, das man nicht unbedingt versteht, wirken beruhigend, besonders in liegender Position. Man kann in Plea eintauchen und das heilende Ritual geschehen lassen oder einfach beobachten. Plea funktioniert auf vielen Ebenen: Es ist eine Aktivierung von generationenaltem Wissen und zugleich ein Werkzeug, das hilft, über die eigenen Erfahrungen aus einer distanzierteren Perspektive nachzudenken. Plea scheint von der Zugehörigkeit zu einer spezifischen Tradition zu handeln, thematisiert aber zugleich auch die Emanzipation aus deren Einschränkungen. Der projizierte Text erinnert uns an das Nebeneinander von mündlicher Überlieferung und Schrift, Tradition und moderner Kultur – und an die Gefahren beider.

Courtesy der Künstlerin

Frauenchor im öffentlichen Raum

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Anna Jermolaewa

Singing Revolution, 2022, Drei-Kanal-Video-Installation; Farbe, Ton, 36:34 min

Der politische Widerstand steht im Zentrum der Arbeit von Anna Jermolaewa. Die in Leningrad in der UdSSR geborene Konzeptkünstlerin musste als Mitbegründerin einer Oppositionspartei und Mitherausgeberin einer regimekritischen Zeitung 1989 aus der Sowjetunion fliehen und erhielt in Österreich politisches Asyl. Gewaltfreie Proteste gegen repressive Regime und revolutionäre Bewegungen in Diktaturen spielen eine wesentliche Rolle in ihrem Werk. Die Künstlerin interessiert sich dafür, welche vielfältigen Sprachen und Ausdrucksformen dieser Widerstand finden kann, und untersucht die Ästhetiken von Protesten und die Medialisierung der Widerstandsbewegungen – auch und besonders in der Aneignung künstlerischer Strategien.
 

Als „Singende Revolution“ werden die friedlichen Massenproteste in Estland, Lettland und Litauen bezeichnet, in denen in den Jahren 1988 bis 1991 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion gefordert wurde. Der Name verweist darauf, dass die Menschen sich in großen Gruppen versammelten und ihren Wunsch nach Freiheit durch gemeinsames Singen zum Ausdruck brachten.
 

Für Singing Revolution hat die Künstlerin in jeder der drei baltischen Hauptstädte einen Chor zusammengestellt, der einige der Befreiungslieder der Bewegungen singt. Die Protagonist*innen spielen in den dokumentarisch angelegten Videos weniger Rollen, vielmehr treten sie als Repräsentant*innen einer kritischen Zivilgesellschaft in Aktion. Im Chor werden die Individuen in der gemeinsamen Praxis des Singens zu einer Bewegung – zu dem, was autoritäre Machthaber wie Wladimir Putin am meisten fürchten. Denn, wie Vanessa Joan Müller schreibt, „erst die physische Präsenz vieler im Realraum schafft jene Bilder, die über ihre globale Zirkulation den Druck aufbauen, der überkommene Strukturen erodieren“ und Regime stürzen lässt.

 

Kamera: Anna Jermolaewa, Scott Clifford Evans
Courtesy der Künstlerin

Blick auf das offene Meer mit einer Person in einem Neoprenazug neben einer orangefarbenen Boje

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Mikhail Karikis

SeaWomen, 2012, Zwei-Kanal Video- und Soundinstallation, 14:49 min

In den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt der griechisch-britische Künstler Mikhail Karikis das Zuhören als künstlerische Strategie. In Zusammenarbeit mit Menschen von außerhalb des Kunstfeldes entwickelt er sozial eingebettete Projekte, die ein aktivistisches Imaginäres anregen, es ermöglichen, sich alternative Formen des menschlichen Handelns für eine mögliche solidarische, sozial und ökologisch gerechte Zukunft vorzustellen.
 

Aus der Begegnung mit den Haenyeo (Seefrauen), einer Gruppe älterer Frauen auf der zu Südkorea gehörenden Insel Jeju im Nordpazifik, entstand die Arbeit SeaWomen. Die immersive Sound- und Videoinstallation zeigt den Arbeitsalltag der Frauen auf dem Meer und lässt uns tief in ihre akustische Umgebung eintauchen. Sie tauchen ohne Sauerstoffzufuhr in große Tiefen, um Perlen zu finden und Meeresfrüchte zu fischen. Seit den 1970er-Jahren ist dieser uralte Frauenberuf der wichtigste Wirtschaftszweig der Insel und begründete ein matriarchales Gesellschaftssystem. In einer Umkehrung der traditionellen Geschlechterrollen beharren die Frauen auf ihren nachhaltigen ökofeministischen Arbeitspraktiken und bewahren entgegen dem Trend der Industrialisierung eine kollektive Ökonomie, aber auch Lebensfreude und Unabhängigkeit im Alter.
 

Zwischen heftigen Gewittern am Meer und Arbeitsgesängen im rhythmischen Takt des Ruderns sticht ein charakteristisches Pfeifgeräusch, das an Delphinlaute erinnert, heraus: Das gleichzeitig alarmierende und freudige Sumbisori entspringt der traditionellen Atemtechnik der Taucherinnen, das die Schwelle zwischen Leben und Tod markiert und von Generation zu Generation weitergegeben wird.

 

Courtesy des Künstlers

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Anton Kats

… mission, 2024, Radio-Soundsystem, interaktive Klangskulptur

In der Arbeit des in Cherson geborenen Künstlers, Musikers und Forschers Anton Kats, auch bekannt als Performer ILYICH, sind die Grenzen zwischen bildender Kunst, Performance und Sozialem bewusst unscharf. Er entwickelt Projekte, die sich mit Themen wie Vertreibung, Antifaschismus und dem Nicht-Normativen beschäftigen. Sound und seine sozialen und politischen Dimensionen stehen im Mittelpunkt seiner Praxis.
 

Das mobile Radio-Soundsystem ...mission reagiert auf das Verhältnis von Verwundeten zu Gefallenen in modernen Kriegen, das zwischen 3:1 und 10:1 liegt. Neben dem stillen Preis des Überlebens braucht das Land im Krieg bis zu zehnmal mehr Rollstühle und Krücken, um sich fortzubewegen. ...mission greift die grundlegenden Fragen der Radioübertragung auf: Wer sendet was an wen? Was ist die Übertragung? Warum wird etwas übertragen? Kats nutzt das Projekt, um gezielt die Gegenwart zu hinterfragen: Was ist die ...mission des Krieges? Indem er Raum für andere Bedeutungen lässt, erinnert der Künstler daran, dass das Radio ein Notfallmedium ist: Wenn alle anderen Kommunikationskanäle schweigen, treten die sozialen Organismen durch das Radio wieder zum Vorschein. So wie das Radio Raum für ungehörte Stimmen bietet, erforscht Kats das Zuhören als eine soziale und generative Kraft, die die Bedingungen von Politik, Kultur und Psyche in Zeiten von Krieg und Konflikt widerspiegelt.
 

Als Kunstobjekt, das in eine partizipatorische Dimension einlädt, wirft das Radio-Soundsystem einen kritischen Blick auf das Phänomen der Stimme und der Gemeinschaftsbildung und perforiert die Unantastbarkeit der Machtverhältnisse zwischen Sender und Empfänger. Es kann den Ausstellungsraum verlassen und wird von den Kunstvermittler*innen des Kunsthauses Graz gemeinsam mit lokalen Communities aktiviert. Das von Beginn an vorhandene Klangstück Kyiv 324 von Anton Kats, eine akustische Psychogeografie aus Radiosendungen, Architektur, Verkehr, Natur und Krieg aus Kyiv, wird kontinuierlich um die in Graz entstandenen Aufnahmen zu einer kollektiven Klangerfahrung erweitert.

 

Technische Unterstützung: Richard Gabriel Gersch
Co-produziert von Kunsthaus Graz
Courtesy des Künstlers

Neon Schriftzug in grün

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Belinda Kazeem-Kamiński

A Breathing, 2024, Neon-Installation, 221 x 50 cm

Belinda Kazeem-Kamiński ist Künstlerin, Autorin und Wissenschaftlerin. Verwurzelt in der Schwarzen feministischen Theorie, hat sie eine forschungsbasierte künstlerische Praxis mit Schwerpunkt in Film und Fotografie entwickelt, in der sie die (post)koloniale Geschichte und deren Erbe hinterfragt und sich mit der Marginalisierung der Erfahrungen und Narrative Schwarzer Menschen beschäftigt. In Sammlungen und Archiven setzt sie sich mit Machtgefügen und Bildregimen auseinander, wobei sie besonders die Leerstellen des hegemonialen Blicks interessieren. Die Erkenntnisse ihrer Recherchen verbindet Belinda Kazeem-Kamiński mit Imagination, Fiktion und „Eigensinn“ (Nora Sternfeld) zu ebenso kritischen wie poetischen Arbeiten in „bewusst offener, mitunter brüchiger“ (dies.) Form.
 

Für die 12. Liverpool Biennale hat Kazeem-Kamiński die Videoinstallation Respire entwickelt, die sich mit der Prekarität Schwarzer Existenz beschäftigt und die Befreiung aus derselben im Atmen manifestiert. Sichtbar gemacht durch einen Luftballon, in den die Protagonist*innen ein- und ausatmen. Mit ihren Atembewegungen und deren Klang konstruieren sie einen kollektiven Raum. Der Klang des Atmens wandert zwischen den Personen, vom Individuum zur Gemeinschaft, in Traumata der kolonialen Vergangenheit und wieder zurück. Akustisch wird das Werk vom Klangkünstler Bassano Bonelli Bassano begleitet, visuell von der grünen (eine der drei Farben des Black Consciousness Movement) Neonskulptur A Breathing. Diese basiert auf einem Zitat aus dem Buch Ordinary Notes der Autorin Christina Sharpe, das für die Konzeption von Respire eine wichtige Referenz ist: „a multitude of Black persons gathered a breathing“. Atmen, ein grundlegender Akt der Existenz, wird in Kazeem-Kamińskis Arbeit zu einem Prozess der Befreiung, Selbstbehauptung und des Aufbaus einer Gemeinschaft, die auf ihr Recht auf Geschichte besteht.

 

Courtesy der Künstlerin

Gesangsperformance eines Mannes mit verschränkten Händen vor dem Gesicht

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Brandon LaBelle & Octavio Camargo

Deaf Script, 2022, Videoinstallation, ohne Ton, 12:00 min

Brandon LaBelle ist ein Künstler, Schriftsteller und Theoretiker, der mit Klangkultur, Stimme, Zuhören und Fragen der Handlungsfähigkeit arbeitet. Von Gesten der Intimität und des Zuhörens bis hin zu kritischer Festlichkeit und experimenteller Pädagogik orientiert sich seine Praxis an der Politik und Poetik der radikalen Gastfreundschaft.

In Deaf Script geht es darum, der tauben Stimme zuzuhören, was bedeutet, über das auf Ton basierende Verständnis von Sprache hinauszugehen. LaBelle betrachtet Zuhören als eine transformative Praxis, als aktives Zuhören, was nicht dasselbe wie Hören ist und nicht zwangsläufig das Ohr mit einbezieht. Es bedeutet auch, auf Menschen mit Behinderungen, kleine Gemeinschaften, Körper und Nicht-Menschen zu hören.
In einer Gesellschaft des globalen Finanzkapitals, in der Sprache abstrakt und entfremdet geworden ist, müssen wir umso mehr darauf achten, auf den Körper zu hören. Dies ist der erste Schritt in Richtung Heilung und Solidarität. In diesem Werk bedeutet Zuhören das Lesen der brasilianischen Gebärdensprache (übersetzt in portugiesische und englische Untertitel), von Zeichen, die durch die Bewegungen der Hände der Darsteller*innen entstehen. Dieses Werk befasst sich auf poetische Weise mit Zeichen als einzigartige linguistische Form, die Sprache mit der affektiven Kraft des körperlichen Lebens verbindet. Von kinästhetischer Personifikation bis hin zur taktilen Sinngebung lädt Deaf Script uns ein, durch Taubheit zu hören.

Entwickelt in Sala 603 in Curitiba, Brasilien, mit tauben Darsteller*innen, darunter Rafaela Hoebel, Gabriela Grigolom Silva, Diegho da Silva Lima, zusammen mit Jonatas Medeiros (Übersetzung in brasilianische Gebärdensprache) und Giuliano Robert (Kameramann).
 

Regie: Octavio Camargo, Text: Brandon LaBelle
Courtesy einer privaten Sammlung

Zu sehen ist eine Frau, die ihr Gesicht vermeintlich gegen eine Glasscheibe drückt

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Katalin Ladik

O-pus, 1972, Poemim, 1980

Katalin Ladik beschreibt ihre medienübergreifende Arbeit selbst in erster Linie als Poesie. Nicht als statische Poesie am Papier, sondern als dynamisierte Poesie: visuell, grafisch, in Bewegung. In ihren Performances und Foto-/Videoperformances werden ihr Körper und ihre Stimme zu Resonanzkörpern gesellschafts- und medienkritischer Reflexionen über die Konstruktion von Weiblichkeit. Stimmlich, durch Mimik und Gesten wie auch als visuelle Poesie erforscht sie Sprache als Ausdrucksmittel und als mächtiges Werkzeug.
 

Die experimentelle Videoarbeit O-pus, die Katalin Ladik gemeinsam mit Attila Csernik und Imre Póth als Künstler*innenkollektiv Bosch+Bosch entwickelte, steht am Beginn ihrer Entwicklung einer visuellen Poesie. Als ungarische Jugoslawin beschäftigte sie sich mit der Herausforderung, Poesie über Sprachgrenzen hinweg zugänglich zu machen. Parallel zur geschriebenen Literatur erschloss sie sich mit diesem Ziel die Welt der Bilder, Collagen und Lautpoesie. Das „O“ emanzipiert sich vom Papier auf die Hände und Füße der Künstler*innen und in den Raum, während es, von Ladik intoniert, in all seinen lautpoetischen Variationen und Nuancierungen eine immaterielle Präsenz entwickelt.
 

In Poemim kritisiert die Künstlerin gesellschaftlich und medial konstruierte weibliche Schönheitsideale durch ironische Verformungen ihres eigenen Gesichts: Sie deformiert ihre Gesichtszüge, indem sie ihr Gesicht gegen eine Glasscheibe drückt, schneidet Grimassen, verstellt ihre Stimme und gibt unverständliche Laute von sich. Mit Brillenmodellen zwischen futuristischem Design und Faschingskostüm und indem sie schließlich ihr Gesicht mit weißer Farbe besprüht, steigert sie die Szene ins Groteske. Nicht zuletzt die Mode- und Schönheitsindustrie kritisierend stellt sie die Frage, wie „ein schönes Frauengesicht denn auszuschauen“ hat.

Einzelnachweise
zwei Frauen sitzen in einem Zimmer auf einem Bett. Die ältere Frau trägt ein Kopftuch und eine weiße Bluse, die jüngere Frau trägt ein blaues Kleid mit Blumen.

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Lucia Nimcová

Bajka / Tall Tale, 2016, Video, Farbe, Ton, 32:14 min

Die slowakische Multimediakünstlerin Lucia Nimcová entstammt der Volksgruppe der Ruthenen (Russinen), die als Minderheit in den östlichen Karpaten der Slowakei, Polens und der Westukraine lebt. Das Verbot, in ihrer Jugend die ruthenische Sprache zu sprechen, löste in ihr eine Faszination für das Verbotene aus, das sie nun seit über 20 Jahren in Film- und Fotoprojekten dokumentiert. 2014 begann sie gemeinsam mit dem Soundkünstler Sholto Dobie den ukrainischen Teil der Karpaten zu bereisen, mit dem vagen Ziel, eine ruthenische Volksoper rund um die „khroniky“ – die erzählenden Lieder, die sie aus ihrer Kindheit kannte – zu entwickeln. Eine spezielle, anzügliche Form dieses traditionellen Liedguts sind die „potka“ (Vagina-Lieder), die eine verschlüsselte Sprache enthalten, mit der Frauen in Gegenwart ihrer Männer heimlich kommunizieren konnten.
 

Über drei Sommer entstanden der Film Bajka (Fabel) und das Album DILO (Arbeit). Entgegen herkömmlicher dokumentarischer Praxis ist Bajka als eine subjektive Synthese aus anthropologischer Forschung und Musiktheater konzipiert. So unterläuft sie die immer häufigere Vereinnahmung von traditioneller Musik und Volkskultur durch populistischen romantischen Nationalismus und bietet stattdessen oft verborgenen und vom Verschwinden bedrohten Gegenerzählungen zum dominanten Narrativ eine Bühne. Die gleichzeitig tragikomischen wie brutalen Lieder handeln von häuslicher Gewalt, Sex, Liebe, Hass und zeigen eine alternative Folklore: harten Karpaten-Rap und Vintage-Feminismus. Nimcová und Dobie bewegen sich frei improvisierend durch die Straßen und Felder, Küchen und Feiern der instabilen Region und führen Alltag und Theater zu einer vielstimmigen zeitgenössischen Chronik zusammen, die auch zeigt, wie präsent die Vergangenheit in der Gegenwart ist.

 

Courtesy der Künstlerin, Nohami Foundation, Brüssel und Galeria Hlavneho mesta, Bratislava

Rauminstallation mit beleuchteten Ventilatoren

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Lala Raščić

POČIMALJA – she who starts the song, 2022, Installation, kinetische Objekte: Kupfer, Verzinnung und Vergoldung, Holz, Edelstahl, Elektronik; Video, Mehrkanalton, Licht, Lautsprecher, Mikrofonständer, Automatisierung

Die in Sarajevo geborene Künstlerin Lala Raščić untersucht in ihren Performances, Installationen und Zeichnungen historische und zeitgenössische Praktiken des Geschichtenerzählens und mündlicher Traditionen. In ihrer künstlerischen Forschung setzt sie sich kritisch mit Folklore und Folklorisierung als Mittel der Neotraditionalisierung und Repatriarchalisierung von Gesellschaft auseinander. Auf materieller und immaterieller Ebene versucht sie, die Entwicklung traditioneller Formen befreit von ihrem normativen kulturellen Kontext zu betrachten.
 

POČIMALJA basiert auf einer als „tepsijanje“ bekannten regionalen volkstümlichen Musiktradition, bei der Gesang vom händischen Rotieren einer Kupferschale begleitet wird. Diese auch heute noch vor allem von Frauen praktizierte Tradition entstand ursprünglich aus einer Not heraus: In der stark patriarchalisch geprägten Gesellschaft wurden Frauen in der Regel vom öffentlichen Musizieren ausgeschlossen und ihnen der Zugang zu Musikinstrumenten verwehrt. Indem sie auf einen Haushaltsgegenstand zurückgriffen, war es ihnen möglich, ihre Lieder, die in der Regel zu Hause oder bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten öffentlich vorgetragen wurden, instrumental zu begleiten. Der Begriff „počimalja“, der eine Frau bezeichnet, die in der Regel ein Lied beginnt, indem sie einen Ton vorgibt, in den die anderen Sängerinnen harmonisch einstimmen, stammt ebenfalls aus der Volkstradition.
 

In POČIMALJA setzt sich Lala Raščić kritisch mit gängigen Vorstellungen von Folklore auseinander und reinterpretiert „tepsijanje“ als Ausdruck einer unterdrückten weiblichen Subjektivität und als feministische Geste in einem patriarchalen Umfeld. In der komplexen immersiven Installation verwebt sie die lokalen Traditionen mit antiken Mythen und konstruiert eine visuell wie akustisch poetische Erzählung über Widerstand und Befreiung, eine Emanzipation der Tradition selbst.

 

Courtesy der Künstlerin

Rauminstallation mit Konservendosen

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Antoni Rayzhekov

The Evasive Choir, 2021, *30-Kanal-Audioinstallation

Antoni Rayzhekov vereint in seiner Arbeit Aspekte aus zeitgenössischem Theater, Performance und Musik mit digitaler Kunst zu interaktiven Installationen, die wie performative Instrumente die Medien und das Publikum zu Mitautor*innen machen und sie verborgene Prozesse und Beziehungen entdecken lassen.


The Evasive Choir versammelt Stimmen aus dem politischen und öffentlichen Leben Bulgariens seit 1989, also zwei Jahre vor der Auflösung des Warschauer Paktes und der damit einhergehenden Unabhängigkeit des Landes. Aus 30 geöffneten Blechdosen erklingen gefundene Interviewpassagen oder Statements politischer Schlüsselfiguren dieser Zeit, alle gleichzeitig, wie das Stimmengewirr auf einem öffentlichen – politischen – Platz, ein vielstimmiges Gespräch, ein Chor. Der Künstler hat die Interviews jedoch bearbeitet, alle gesprochenen Worte entfernt und nur die sie einfassenden Laute erhalten: das Luftholen, Seufzer, unartikulierte Laute des Unbehagens, des Zögerns und Stille. Meist werden mit Stimme Sprache und Kommunikation assoziiert, in Rayzhekovs Installation begegnen wir ihr jedoch jenseits der Sprache, entdecken das Unausgesprochene, das Unaussprechliche, das Verstummte. Im Übergang zur Stille ist Unentschlossenheit und Unsicherheit zu spüren.


Antoni Rayzhekov betrachtet anhand des „Chors der Stille“ – komponiert aus den Stimmen von Politikern, die über Jahre, teilweise Jahrzehnte, das politische Leben Bulgariens in verschiedenen, wechselnden Positionen geprägt und bestimmt haben – den Zustand der Gesellschaft des Landes: das ererbte kollektive Schweigen, die Schwäche öffentlicher Medien, die Schwierigkeit, demokratische Prozesse zu etablieren und diese zu erhalten. Rayzhekovs politische Analyse der jüngeren Vergangenheit seines Heimatlandes kann heute als mahnender Kommentar zur Gegenwart fast ganz Europas gelesen werden.
 

*30-Kanal-Audioinstallation; gefundene Interview-Aufnahmen bulgarischer Politiker von 1989 bis 2020, Notenständer aus Metall, Blechdosen, Lautsprecher, Elektronik, Maße variabel
Courtesy National Gallery Sofia

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Gerhard Rühm

Der Weg Haut! Haut, 1956; Lippen und Lippen, 1959; smooth Fall, 1961

Gerhard Rühm ist Zeichner, Maler und Collagist, Dramatiker, Performer und Lyriker, Komponist, Musiker und Interpret. In seiner Arbeit an den Grenzen der traditionellen Gattungen geht er von der Poesie und vom Musikalischen aus, erforscht deren Erweiterung in der Steigerung des Ausdrucks durch die Reduktion der Mittel. In seinen visuellen Kompositionen löst er die Sprache aus ihren gewohnten Zusammenhängen und Konventionen, nutzt sie als Material. Als einer der Ersten hat er so Musik, Literatur und bildende Kunst zu einer poetischen Synthese verschmolzen.
 

Rühms Typocollagen erweitern und verfeinern das Ausdrucksrepertoire seiner schon früher entstandenen Schreibmaschinenideogramme, indem sie die Möglichkeit verschiedener Schriftgrößen und -typen nutzen und sich vom Format des Schreibmaschinenblatts unabhängig machen. Während der Reiz der Schreibmaschinenpoesie auch aus der kreativen Nutzung ihrer technologischen Beschränkung entsteht, zeichnet sich die visuelle Poesie der Typocollagen durch ihre größere Freiheit aus. Wörter und einzelne Buchstaben werden im Sinne einer konkreten Poesie auf sparsamste Weise eingesetzt. Wie viel Rühm den Betrachter*innen vorgibt, variiert: von der suggerierten, das Blatt bis zu seinen Rändern einnehmenden Leserichtung von Lippen und Lippen über die zentrale Dreiecksbeziehung von Der Weg Haut! Haut bis zum durch ein weiteres grafisches Element und Größenunterschiede maximal dynamisierten smooth Fall.
 

Die einzelnen Worte befinden sich semantisch wie visuell in einem fein austarierten Schwebezustand. Nicht durch einen Satzzusammenhang eingeschränkt, können sie ihre „Bedeutungsaura voll entfalten“ (Gerhard Rühm) und bilden visuelle Konstellationen, denen man sich zunächst bildhaft, dann akustisch nähert und schließlich die Zusammenhänge selbst herstellen kann.

Einzelnachweise
Selma Selman in einem neonfarbenen Kleid im öffentlichen Raum

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Selma Selman

You Have No Idea (Election Day 2020), Videodokumentation der Performance, 4:59 min

Die Arbeiten der aus Ružica, Bosnien und Herzegowina, stammenden Selma Selman nehmen ihren Ausgangspunkt in ihrer persönlichen Biografie als Künstlerin mit Romnja-Hintergrund. Aus ihren Erfahrungen und ihrer Identität entwickelt sie eine gesellschaftspolitisch engagierte künstlerische Praxis, die Themen wie mehrfache Diskriminierung, feministische Selbstermächtigung oder politischen Widerstand reflektiert.
 

You Have No Idea ist eine sehr persönliche und intensive Performance, die Selma Selman 2016 konzipiert und seither mehrfach umgesetzt hat. Sie konfrontiert die Zuseher*innen sehr direkt, indem sie durchgehend den Satz „You Have No Idea“ wiederholt – in dieser Aufführung der Performance während sie am Tag der U.S.-Präsidentenwahl 2020 den „Black Lives Matter Boulevard“ entlang auf das Weiße Haus zuschreitet. Zuerst spricht sie kontrolliert, dann schreit sie, flüstert, schluchzt den immer selben Satz bis zur körperlichen Erschöpfung: „Ihr habt keine Ahnung.“ – Wie die Künstlerin es beschreibt: „Ihr habt keine Ahnung von meinem ganzen Leben. Ihr wisst weder, wer ich bin, noch kennt ihr mein Glück oder meine Traurigkeit. Ihr wisst nichts von der Anwesenheit oder Abwesenheit von Schmerz in meinem Leben und auch nicht, wie ich mich in dem Moment fühle, in dem ich dieses Stück vor Publikum aufführe. Ihr habt keine Ahnung.“
 

An der Grenze zwischen Verletzlichkeit und Gewalt widerspricht und widersetzt sich die Künstlerin rassistischen, sexistischen und anderen Zuschreibungen und löst Desorientierung aus, wenn ihre Stimme als Frau und als Romnja gehört wird, wenn sie laut ist.
 

Die Menschen, die ihr bei der Performance mit ihren Blicken, Kameras und Handys folgen, reagieren emotional – fasziniert, verunsichert, wütend. Selbst in der Schwebe zwischen Wut und Verzweiflung, Widerstand und (Selbst-)Schutz legt Selman die Kraft der Empathie offen und stellt zugleich die Frage, wie geeignet sie als Fundament für gesellschaftliche oder politische Bewegungen sein kann.
 

Video: Cesar Hatum
Courtesy der Künstlerin

 

Eine Frau vor rotem Hintergrund hält ein besticktes Tuch vor ihr Gesicht, in dem eine Karikatur einer Frau in einer Küche zu sehen ist, die gleichzeitig kocht und putzt. Ergänzt wird dieses Bild durch einen kyrillischen Titel.

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ŠKART & NONpractical Women

Nove kuvarice (New Cook), 2003 – ongoing, Näharbeit auf Leinwandstoff, Text, Zeichnungen, Stickereien: NONpractical Women

Das Kollektiv „NONpractical Women“ wurde 2000 von der ŠKART-Gruppe in Zusammenarbeit mit der Gruppe für alleinerziehende Mütter „WOMAN“, Zemun, Serbien, gegründet.


Die ŠKART-Gruppe (gegründet von Đorđe Balmazović und Dragan Protić) untersucht und überschreitet Grenzformen von Poesie, Grafikdesign, alternativer Bildung und sozialem Aktivismus durch ständigen konstruktiven Konflikt.

Zu Beginn der 2000er-Jahre gab ŠKART alleinerziehenden Müttern eine Plattform, indem sie diese einluden, mithilfe eines traditionellen Kunsthandwerks – der Stickerei – „Kuvarice“ zu fertigen. Kuvarice sind Leinentücher, die vor nicht allzu langer Zeit in jedem Haushalt über dem Herd hingen. Darauf stickten Hausfrauen kurze Sprüche, die gewöhnlich die Unterwerfung der Frau gegenüber ihrem Ehemann und ihre Sorge um sein leibliches Wohl zum Ausdruck brachten.

Anstelle solcher unterwürfigen Liebesbekundungen beauftragte ŠKART alleinerziehende Frauen, sozialkritische Texte auf die Tücher zu sticken. Die Idee dahinter war nicht nur, das Bewusstsein dieser Frauen zu schärfen, sondern ihnen auch beim Überleben zu helfen. Von Anfang an verkaufte ŠKART die Kuvarice und spendete die Erlöse an die Stickerinnen.
Mit den Kuvarice wurde ŠKART zu einer Plattform für all jene, die Dichterinnen werden oder sich in irgendeiner anderen Form künstlerisch betätigen wollten. Die verschiedenen Kuvarice tragen illustrierte, gereimte Texte zu Themen wie Politik, häuslicher Gewalt, Kinderrechten, nachbarschaftlichen Gewohnheiten, Ökologie und Chroniken und haben wiederum viele andere überrascht und dazu ermutigt, ihre eigenen Gefühle, Kämpfe und Probleme auf ihre Weise auszudrücken.

Die Küchenweisheiten der „NONpractical Women“ Lenka Zelenović, Brigita Medjo & Vladan Nikolić sowie Pava Martinović erzählen ihre Geschichten und erinnern uns daran, dass jede Fertigkeit nützlich ist und jeder Widerstand zählt.


Initiative und Produktion: ŠKART
Courtesy einer privaten Sammlung

Individual titles
Aufnahme eines Straßenschildes in s/w

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Mladen Stilinović

Pjevaj! / Sing!, 1980 Collage; Pastell, s/w-Fotografie, Banknote auf Kunstseide 41 x 32 cm; Početnica 1, 2, 3 / Primer 1, 2, 3, 1973, 16-mm Film, stumm, 5:28 min; Edition 1/10

Mladen Stilinovićs Werk bezieht sich auf den ideologischen, wirtschaftlichen und alltäglichen Kontext des ehemaligen Jugoslawiens und Kroatiens. Im Zentrum seines Interesses stehen Sprache, politische Slogans, mediale Manipulation, Straßenbilder und die Sprache der Menschen. Er spielt mit der „Ausbeutung“ der Sprache, um neue visuelle und poetische Dimensionen zu eröffnen.
 

Početnica 1, 2, 3 / Primer 1, 2, 3 ist eine Trilogie kurzer Stummfilme, in deren Auftakt die Zuschauer*innen aufgefordert werden, die darauffolgenden Texte laut zu lesen. Der erste Teil zeigt Schilder von einem Friseursalon, einer Schlosserei, einer Küferei, einer Tischlerei und anderen Geschäften – aufgenommen in der Vlaška-Straße in Zagreb, zwischen den Hausnummern 57 und 67. Damit eröffnet Stilinović ein zentrales Thema seines Schaffens: die Straßengestaltung – Design, das spontan entsteht, geschaffen von „Schriftmalern“, Menschen ohne professionelle Ausbildung. Stilinović liebte diese Form der Gestaltung: Zwei von ihm 1975 geschaffene Leporellos waren Friseuren und Fotowerkstätten gewidmet.

Im zweiten Teil, betitelt als Der Leser, wird die Bildfunktion vollständig von Wörtern und Buchstaben aus Stilinovićs Gedicht übernommen, wobei in jedem Einzelbild jeweils nur ein Wort erscheint. Da das Wort schneller gelesen wird, als das Bild verweilt, geht die Verbindung zum zuvor gelesenen Wort verloren – am Ende verschwindet so die Bedeutung des eigentlich sehr einfachen Gedichts. Durch die Fragmentierung der Montage bis zur Sinnlosigkeit versuchte der Künstler, die Wirksamkeit von Worten durch Filmzeit zu zerstören.
 

Der letzte Teil, Das Bilderbuch, richtet sich erneut an die Zuschauer*innen – nun in großen Druckbuchstaben mit der Aufforderung, sowohl den Text als auch die Bilder laut zu lesen. Am Ende fügen sich Text und Bild in die Erzählung von Äsops Fabel über die Löwin und den Fuchs ein, mit einer unmissverständlichen Botschaft: Der Wert liegt nicht in der Menge, sondern in der Qualität!
 

Wie mit vielen seiner Werke bezieht sich Mladen Stilinović mit der Arbeit Pjevaj! / Sing! auf die Themen Arbeit und Geld. Am besten zitiert man den Künstler selbst: „Ich klebte mir Geld auf die Stirn und befahl mir zu singen. Es ist selbstironisch, aber ich würde auch gerne etwas Geld verdienen. Es war ein Scherz, aber nicht absichtlich. Es hat keine Rolle gespielt, dass es gegen mich selbst gerichtet war. Man muss das singen, was andere wollen, wenn sie einen dafür bezahlen.“
 

Eine 100-Dinar-Banknote aus Jugoslawien ist auf die Stirn des Künstlers geklebt, mit dem Wort „Pjevaj!“ („Sing!“), was dem Werk einen stark performativen Charakter verleiht. Das Bild verweist auf die Balkantradition, Sänger in Bars zu bezahlen, indem man ihnen mit Klebeband einen Geldschein an die Stirn heftet. Doch es geht nicht nur um die Tradition, sondern auch um die Stellung des Künstlers, der nie angemessen bezahlt oder respektiert wurde.
 

Courtesy Branka Stipančić, Zagreb

s/w Fotografie auf der eine verschwommene Frau vor einem steinernen Hintergrund zu sehen ist.

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Irena Z. Tomažin

Whispering Walls, 2025, Drei-Kanal-Stimmen-Installation; Sprachaufnahmen, Betonblöcke, Lautsprecher

Irena Z. Tomažin arbeitet als Künstlerin und Performerin in den Bereichen Tanztheater, zeitgenössische Performance und experimentelle improvisierte Musik, im Spannungsfeld von Klang und Geräusch, dem Zusammenspiel von Stimme, Körper und den Klängen seiner Mechanik. Ihre Stimme ist stets in den Räumen verankert, zu denen sie gehört und die sie geformt haben, sowie in den verschiedenen Zeiten, die in ihrem Werk präsent sind.
 

Ihre neue Klanginstallation Whispering Walls ruft Assoziationen mit physischen und imaginären Mauern in und rund um Europa hervor – dort, wo Kriege wüten und Menschen fliehen. Es sind Mauern, welche die „kultivierte“ Welt von der „barbarischen“ trennen. Whispering Walls bezieht sich auf das serbische epische Gedicht The Walling of the Skadar (Die Einmauerung von Skadar) aus dem 14. Jahrhundert – der Zeit der osmanischen Eroberung Serbiens. Es erzählt vom Bau einer Festung am Fluss Bojana. Damals glaubte man, dass kein großes Bauwerk ohne Opfer entstehen könne, und so musste einer der serbischen Adligen seine eigene Frau lebendig in die Mauern der Festung einmauern lassen. Jacob Grimm bezeichnete es als eines der bewegendsten Gedichte seiner Zeit und sandte es an Goethe, der von der Grausamkeit des Motivs und dem Aberglauben entsetzt war.
 

Whispering Walls lenkt die Aufmerksamkeit auf die aktuelle Barbarei in und rund um Europa. Die Mauer gibt drei klangliche Erzählungen wieder, die durch drei schmale Öffnungen in der Wand zu hören sind: die Stimmen des Körpers, die von der physischen Präsenz des Körpers zeugen, den wir gewöhnlich zu kultivieren versuchen; tragische Volkslieder vom Balkan; und das Vorlesen eines Archivs zensierter oder zum Schweigen gebrachter Stimmen im heutigen Europa.
 

Diese Arbeit verbindet die emotionalen, physischen und rationalen Mechanismen, die in unserer modernen Welt Stimmen hervorrufen oder zum Verstummen bringen.

 

Soundbearbeitung und -mischung: Tomaž Grom
Design Wall: studio-itzo
Co-produziert von Kunsthaus Graz
Courtesy der Künstlerin

Performancekonzert

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Nora Turato

my first A, 2025, Drei-Kanal-Klanginstallation

Nora Turato hinterfragt in ihrer breit gefächerten Arbeit in Performances, Installationen, Künstler*innenpublikationen und anderen Medien kontinuierlich unsere kollektive Beziehung zu Sprache und Ausdruck. Ihre Monologe haben schon die Kakophonie des Internets seziert, dubiose Geschäftemacherei entlarvt und die beängstigenden Schattenseiten der Wellness-Industrie erforscht. Turatos Stimme ist das Instrument, das den alarmierenden Überfluss an Informationen und Täuschungen, dem wir fast ständig ausgesetzt sind, transportiert.
 

Im Kunsthaus Graz verzichtet Turatos neue Audioarbeit auf jede Art von Skript und fokussiert auf viszerale Formen des Ausdrucks. Mit my first A untersucht Turato die Kommunikation – emotional und physisch – über den Körper. Turato zeichnet sich selbst auf, wie sie den Buchstaben „A“ verbalisiert. Mit vollständig geöffneter Kehle ist die Anstrengung des Loslassens im Ton deutlich hörbar, während sie nach Luft schnappt. Turato vergleicht dies mit ihrem ersten Aussprechen des Vokals. Durch die Einbeziehung von Elementen der Vocal Freedom-Methode führt Turatos Stimme den Klang in direktem Gegensatz zu neuromuskulären Spannungen aus, die von Geburt an aufgebaut werden und unsere Ausdrucksmöglichkeiten einschränken. Indem sie den Schwerpunkt auf die ursprüngliche Freisetzung des Klangs legt, löst Turato konditionierte Sprechgewohnheiten auf – Gewohnheit ist per Definition ein Muster – und versucht, die ungehemmte Stimme unseres Körpers zu entdecken.
 

Die Positionierung von Turatos Klanginstallation im Travelator des Kunsthauses erfolgt in bewusster Analogie zur Kehle, sowohl in der gewählten Farbe als auch in der Länge des Werks. Für die Dauer der Fahrt nach oben folgen die Betrachter*innen dem „A“, das immer wieder seinen Weg findet, sich zu befreien. Die atypische Architektur selbst wird als eine körperähnliche Form verstanden. Turato entwickelt diese Analogie aus ihren Untersuchungen, wie Klang den Raum einnehmen und zur Stimme dieser ungewöhnlichen und einzigartigen Struktur werden kann.
 

Co-produziert von Kunsthaus Graz
Courtesy der Künstlerin

Rauminstallation

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Tao G. Vrhovec Sambolec

The Landscape of the Passerby, 2023, Videoinstallation; Video, Loop, 2:08 min, vier Zeichnungen A4, Zeitung Free Berlin – Ausgabe 7 (Errant Bodies Press, 2017), Vitrine

Tao G. Vrhovec Sambolec ist Künstler und Forscher mit besonderem Fokus auf Klang, neue Medien, Echtzeit-Interaktion und Fragen zeitgenössischer Vermittlung in Bezug auf das Empfinden (körperlicher) Präsenz. Seine Werke sprechen Besucher*innen durch Klang, Taktilität, kinetische Bewegung und Vibration an, um zu erforschen, wie menschliche Präsenz jenseits direkter Sichtbarkeit und Nähe wahrgenommen werden kann.
 

The Landscape of the Passerby fängt den flüchtigen Moment einer zufälligen Begegnung zwischen einem Insekt, einem gedruckten Text und dem Blick der Leser*innen ein und untersucht ihn. Ein Insekt landet auf einer Zeitungsseite und wandert über den Text. Seine Präsenz lenkt die Aufmerksamkeit der Lesenden vom Text auf die Bewegung des Insekts, die sie mit der Kamera seines Mobiltelefons verfolgen. Später versuchen die Lesenden, den Pfad des Insekts nachzuzeichnen, indem sie das Video betrachten und dessen Bewegung mehrfach mit einem Stift auf ein leeres Blatt übertragen. Die Installation besteht aus der Projektion der Videoaufnahme sowie einer Vitrine mit vier Zeichnungen und der Zeitung.
 

Anstatt die Beziehung zwischen Insekt und Text zu verstehen oder darzustellen, machen sich die Leser*innen dem Insekt verfügbar – indem sie ihm intime Aufmerksamkeit schenken und ihm folgen. Sie verweilen in einer Beziehung der Koexistenz mit dem unverständlichen Anderen – als Akt des radikalen Zuhörens. Dabei verleihen sie diesem mehr als menschlichen Organismus Präsenz auf seinem Pfad durch eine Landschaft, die dem menschlichen Blick als lesbarer Text erscheint. In der glücklichen Erkenntnis, dass die Beziehung zwischen Insekt, Text und ihr*ihm selbst nie vollständig erfasst werden kann, nimmt die*der Leser*in diesen Moment des Vorbeigehens an – als schöpferischen Akt, der nicht einer individuellen Absicht oder Kontrolle entspringt, sondern der Begegnung unvereinbarer Subjektivitäten, Bedeutungen und Aufmerksamkeiten.


Courtesy des Künstlers