Poetics of Power

Die Ausstellung Poetics of Power zeigt die komplizierte und mehrdeutige Natur der Macht auf, die bei der Gestaltung zwischenmenschlicher, kultureller, nationaler und wirtschaftlicher Dynamiken allgegenwärtig und ständig reproduzierbar ist. Sie zielt darauf ab, Machtmanifestationen aufzuzeigen, die etwa in Symbolen, Gesten und oft unhinterfragt in bestehenden Beziehungen oder Systemen verborgen sind. Gleichzeitig erforscht sie auch deren poetische Natur, indem sie ihren allgegenwärtigen Einfluss und ihre Ambivalenz anerkennt.

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Asymmetrie der Macht

Poetics of Power setzt mehrere thematische Schwerpunktzonen, die nicht klar voneinander trennbar sind. Die ausgestellten Arbeiten umfassen verschiedene Medien, darunter Fotografie, Video, Skulptur und Installation. Werke, die von Entkräftung und kolonialer Ausbeutung sprechen, postulieren gleichzeitig Widerstand und Hoffnung. Vor dem Hintergrund zahlreicher Kriege und Konflikte umfasst die Ausstellung auch Werke, die sich mit Gefühlen der Hilflosigkeit oder gar Resignation auseinandersetzen. Aber auch Mut und Solidarität sowie die Notwendigkeit von Verantwortung sind relevante Themen. Auch wenn sich die meisten Arbeiten auf konkrete gesellschaftliche Situationen oder Konflikte beziehen, geht es in der Ausstellung vor allem darum, daran zu erinnern und zu mahnen, dass kein Machtverhältnis, keine Asymmetrie der Macht, endgültig ist oder so hingenommen werden sollte. Poetics of Power ist somit ein Aufruf, sich entlang der gezeigten künstlerischen Positionen mit der Entschlüsselung und Enthüllung verborgener oder scheinbar unhinterfragbarer soziopolitischer Zusammenhänge zu beschäftigen.

Werke in der Ausstellung

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Yael Bartana

Two Minutes to Midnight, 2021

Ein-Kanal-Video- und Soundinstallation (HD, Farbe), 47 min. Courtesy Capitain Petzel Gallery, Berlin; Annet Gelink Gallery, Amsterdam; Sommer Contemporary Art, Tel Aviv; Galleria Rafaella Cortese, Milan und Petzel Gallery, New York


Two Minutes to Midnight spielt an einem runden Verhandlungstisch, an dem eine rein weibliche Regierung eines fiktiven Landes mit der unmittelbaren nuklearen Bedrohung durch eine fremde Nation und deren Präsidenten „Twittler“ konfrontiert ist. Fiktive Charaktere und reale Fachexpertinnen aus Verteidigung, Recht, Politik, Theorie und Psychologie verhandeln in einem demokratischen „Friedensraum“, ob der Einsatz von Atomwaffen zum eigenen Schutz autorisiert werden könne oder nicht. Der Friedensraum ist eine Referenz auf den toxisch-maskulinen „Kriegsraum“ in Stanley Kubricks Filmsatire Dr. Strangelove oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964). Die komplexe Debatte kreist um die Frage, wie man eine Politik der Abrüstung und des Friedens fortführen könne, wenn man einer akuten Bedrohung und autokratisch-politischem Druck ausgesetzt ist.


Yael Bartana verbindet in Two Minutes To Midnight eine Analyse geopolitischer Machtspiele mit dem Diskurs über noch immer männlich dominierte Machthegemonien. Sie stellt die Frage, ob eine weiblich dominierte Politik andere, friedlichere Entscheidungen treffen würde.


Der Titel der Arbeit bezieht sich auf die „Doomsday Clock“ („Weltuntergangsuhr“) des Bulletin of the Atomic Scientists: eine symbolische Uhr, die das Risiko einer globalen Katastrophe anzeigt. Die Uhr war 2021 auf zwei Minuten vor Mitternacht eingestellt, 2024 stehen wir bei 90 Sekunden.

Das in die Arbeit eingebundene dokumentarische Filmmaterial besteht aus Aufnahmen der Live-Performance What if Women Ruled the World? in Aarhus (2017) und Berlin (2018) und der Performance Bury Our Weapons not Our Bodies in Philadelphia (2019).

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Vajiko Chachkhiani

Lower Than the Sky, 2021

Ein-Kanal-Video (2K, Farbe, Ton), 16:25 min. Courtesy des Künstlers & SCAI The Bathhouse, Tokyo; White Space, Beijing


Lower Than the Sky zeigt einen rosa gefärbten Himmel über dem Meer, auf dem sich zwei Boote bewegen. Diese kommen immer näher, sodass man Menschen darauf erkennt. Kurz bevor sie vermeintlich ihr Ziel erreichen, kehren die Boote allerdings um. Die Menschen an Bord schauen direkt in die Kamera und halten durchgehend den Blickkontakt.

Der Film ist eine visuell-poetische Videoinstallation über Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Er entstand 2012, bevor das Thema Flucht zu einem globalen, medialisierten Politikum wurde. Allerdings ist das Thema der Binnenvertriebenen für den Künstler und das Land Georgien seit Langem vertraut, da Georgien seit den 1990er-Jahren mehrere territoriale Konflikte durchlebt hat.


Vajiko Chachkhianis Videoarbeiten zeichnen sich trotz der ernsten Themen durch eine ganz besondere meditative, poetische Stimmung aus. Dabei schafft er Schnittstellen zwischen der Realität, der Außenwelt und der menschlichen Psyche.

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Jošt Franko

Memory Without Evidence, 2023/24

Wandposter, Zeitschriften. Courtesy des Künstlers


Die Arbeit ist eine mehrperspektivische Auseinandersetzung mit den Themen Erinnerung, Trauma und Existenz. Memory Without Evidence ist der Titel einer vom Künstler publizierten Zeitung, die im Rahmen einer Reihe von Workshops und Dialogen mit Vertriebenen entstanden ist. Sie erzählt über die oft traumatischen Erinnerungen und Geschichten von Menschen, die über die Balkan-Flüchtlingsroute in die Europäische Union geflüchtet sind. Für viele, die an der Erstellung der Zeitung beteiligt waren, endete der Kampf um ihre Existenz nicht mit dem Erreichen des ersehnten sicheren europäischen Hafens.


Mit seinen Arbeiten erzählt Jošt Franko die Geschichten von übersehenen und marginalisierten Gruppen und Einzelpersonen neu. Über das Medium der Fotografie entwickelt er seine auf Forschung basierte konzeptuelle Kunstpraxis. Dabei untersucht er die Beziehung zwischen persönlichen und kollektiven Erinnerungen, insbesondere in Relation zu Krieg, systemischer Gewalt und sozialen Ungerechtigkeiten. Ein Fokus liegt dabei auf der Fragilität und Subjektivität von Erinnerung: Wer hat die Macht über persönliche (vielfach nicht dokumentierte) Erinnerungen? Welchen Einfluss haben Machtstrukturen und Ideologien auf das kollektive Gedächtnis?

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Gabriela Golder

Conversation Piece, 2012

3-Kanal-Videoinstallation (HD), 19:30 min. Courtesy der Künstlerin


Gabriela Golders Conversation Piece zeigt eine Lesesituation: Zwei junge Mädchen lesen zusammen mit der Großmutter das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels (1848). Die Mädchen versuchen, den Text zu verstehen. Sie stellen Fragen zu Kontexten, Phrasen und Wörtern, die ihnen zu komplex oder unbekannt sind. Durch ihr insistierendes Nachfragen wird das Manifest beiläufig dekonstruiert: Was ist ein Unterdrücker? Was ist ein Unterdrückter? Was ist eine Revolution?


Das Werk ist als Triptychon angelegt und spielt mit historischen Bezügen, die sich im Titel des Werks und in der Gestaltung des Raums wiederfinden. Ein Konversationsstück ist ein traditionelles Gemäldegenre, das Menschen in alltäglichen Raumsituationen zeigt. Heute fungiert der Begriff meist metaphorisch als Einladung zum Gespräch. Golder kapert das Format für eine Spurensuche nach der persönlichen und nationalen Vergangenheit – den individuellen und kollektiven Traumata infolge der Militärdiktatur in Argentinien. Die Großmutter im Video ist die Mutter der Künstlerin, die eine Aktivistin in der Kommunistischen Partei Argentiniens war, die beiden Mädchen sind ihre Enkelinnen.


Golders Arbeiten sind situative Verhandlungen darüber, wie traumatische Erinnerungen intergenerationell weitergegeben und aufgearbeitet werden können – oder manchmal auch unausgesprochen bleiben. „Kinder können die Welt durch eine Lektüre dekonstruieren, die sich nicht ungestört fortsetzt, sondern Fehler, Risse aufweist, und das schafft Raum für Fragen“, sagt die Künstlerin. Gleichzeitig thematisiert Golder die feministische Weitergabe von Information, die nicht nur zur Wissensvermittlung dient, sondern auch emanzipatorisch wirkt. Sie schafft damit eine Plattform, die Einzelpersonen dazu ermutigt, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen und sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen.

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Cristian Inostroza

To Set Free / Liberar, 2019 Münzen auf einem Sockel

Münzen auf einem Sockel, Video, 08:07 Min. Courtesy des Künstlers


Die derzeit in Chile im Umlauf befindliche 100-Pesos-Münze weist u. a. folgende Merkmale auf: Auf der Vorderseite ist im Münzkern eine Mapuche-Frau abgebildet, umgeben von den Aufschriften „República de Chile“ oben und „Pueblos Originarios“ unten. Die Rückseite zeigt das Staatswappen Chiles, das Prägejahr, die Zahl 100, das Wort „PESOS“ sowie zwei umgebende Lorbeerzweige. Dieses Design wurde im Dezember 2001 in Umlauf gebracht.


Cristian Inostrozas Arbeit ist eine künstlerische Intervention in den Kreislauf von Währungen und fluiden Wertmaßstäben. Anhand eines Alltagsgegenstandes – einer 100-Pesos-Münze – untersucht der Künstler die Auswirkungen von repressiven Machtstrukturen auf die universellen menschlichen Bedürfnisse nach Freiheit und Selbstbestimmung. Seine Arbeit thematisiert die sozialen Unruhen und die Politik der Militarisierung in Chile seit 2019. Im Mittelpunkt der Installation steht ein Video, das durch eine skulpturale Anhäufung beschädigter Münzen im Ausstellungsraum ergänzt wird.


Mit „Friedensstiftung für Araukanien“ beschrieben, ist das Video eine Art Tutorial zur gestischen Befreiung der Mapuche-Frau von ihrer Unterdrückung – aus der 100-Pesos-Münze. Die Mapuche sind die größte indigene Bevölkerungsgruppe Chiles. Sie machen heute etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, verfügen aber nur noch über etwa fünf Prozent ihres ursprünglichen Territoriums. Seit Jahrzehnten kämpfen sie um kulturelle Anerkennung und gegen die sozioökonomische Benachteiligung, die sie besonders durch staatliche Megaprojekte in ihren Territorien erfahren.


Inostroza thematisiert in seinen Arbeiten oft die psychologischen und gesellschaftlichen Zwänge und Auswirkungen von politischen und historischen Machtstrukturen, besonders auf Individuen.

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Grada Kilomba

18 Verses, 2022

18 Holzstücke, eingraviertes Gedicht, handbemalt mit Blattgold, Stoff, 8-Kanal-Soundinstallation, 30 Min


Die Installation besteht aus 18 verkohlten Holzstücken mit Gedichtfragmenten, die von schwarzem Stoff und Klang umhüllt werden. 18 Verses ist eine Raum- und Klanginstallation von Grada Kilomba und der zweite Teil einer Trilogie. Sie zeigt die Silhouette eines Schiffswracks als Symbol für Vertreibung, systemischen Rassismus und globale Einwanderungspolitiken.


18 Verses basiert auf einem Gedicht der Künstlerin, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Das angedeutete Schiffswrack verweist auf Wasser und Boote, die einst im Sklavenhandel und heute auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer verwendet werden. Die Holzkuben wurden einem traditionellen Verbrennungsprozess unterzogen, der in seiner Performanz von Feuer und Wasser einem Prozess von Tod und Wiedergeburt gleicht. Der Stoff hat für die Künstlerin eine poetische, fast skulpturale Bewegung – er wird zum schwarzen Wasser und zur umarmenden Venus. Die zu hörende Klangkomposition wiederum wurde in einer besonderen Gesangstechnik mit Musiker*innen von den Kapverden aufgenommen. Sie erzählt eine Geschichte der historischen Wiederholung, von Trauer und Kummer.


Grada Kilombas Arbeiten sind eine Praxis des dekolonialen Geschichtenerzählens. Die in Berlin lebende portugiesische Künstlerin hinterfragt in ihrer multimedialen Arbeit Konzepte von Wissen, Macht und zyklischer Gewalt anhand von Themen wie Erinnerung, Trauma, Selbstwahrnehmung und Postkolonialismus.

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Daria Koltsova

Tessellated Self, 2023

Buntglasinstallation, 315 cm x 690 cm x 10 cm. Courtesy der Künstlerin


Diese Glasarbeit bezieht sich auf das berühmte konstruktivistische Derzhprom-Gebäude (Palast der Industrie), das 1925–1928 in Charkiw als Ministeriumsgebäude errichtet und zum Wahrzeichen der Stadt, aber auch Symbol der bolschewistischen Macht in der Ukraine wurde. Tessellated Self reflektiert die Frage nach dem kulturellen Erbe der Ukraine und den Möglichkeiten seiner Bewahrung in Zeiten des Krieges.


Die Künstlerin nutzt Glas als Medium des Protests gegen Indoktrination und Propaganda in der Kunst. Darüber hinaus ist die Glaswand eine Anspielung auf die in der Sowjetzeit verbreitete Kunstform, die in den sowjetischen Palästen, den Sitzen der Machtstrukturen, weit verbreitet war. Nach der Dekommunisierung in der Ukraine im Jahr 2015 und insbesondere nach der groß angelegten Invasion Russlands ist das Thema des kulturellen Erbes besonders problematisch geworden. Das Material betont zudem die Zerbrechlichkeit dessen, was uns umgibt. Die vielen einzelnen Glasfragmente sind eine symbolische Referenz auf die bewegte ukrainische Geschichte. In Charkiw, an der Grenze zu Russland aufgewachsen, spürt die Künstlerin mit dieser Arbeit auch ihren intrapersonalen Identitätskonflikten nach.

Behind the Scenes: Tessellated Self von Daria Koltsova

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Goshka Macuga

The Nature of the Beast, 2009

Installation, Mischtechnik: Wandteppich, Tisch aus Holz und Glas, Stühle aus Leder und Metall, Bronzeskulptur auf Holzsockel. Courtesy Castello di Rivoli Museo d’Arte Contemporanea, Rivoli-Turin / Leihgabe der Fondazione per l’Arte Moderna e Contemporanea CRT


Goshka Macugas mehrteilige Installation ist eine kritische Auseinandersetzung mit der symbolischen Macht von Kunst und deren politischer Instrumentalisierung. Die Künstlerin greift dabei die Geschichte und Symbolik des monumentalen Gemäldes Guernica von Pablo Picasso auf.


Picasso schuf Guernica 1937 als Reaktion auf die Bombardierung der gleichnamigen baskischen Stadt durch deutsch-italienische Fliegertruppen im Spanischen Bürgerkrieg. Das Gemälde wurde 1939 in der Whitechapel Gallery in London ausgestellt und entwickelte sich schnell zu einem künstlerisch-politischen Statement gegen Gewalt, Krieg und Faschismus. Eine Teppichreproduktion des Gemäldes – 1955 von Nelson Rockefeller in Auftrag gegeben – hängt seit 1985 im Eingangsbereich des UNO-Sicherheitsrats in New York. Am 5. Februar 2003, als der damalige US-Außenminister Colin Powell im UN-Sicherheitsrat eine Rede zum bevorstehenden Angriff auf den Irak hielt, wurde der Bildteppich absichtlich mit einem blauen Vorhang verhüllt.


Dass Guernica seit seiner Entstehung oftmals als „Hintergrund“ für die Politik dient, greift die Künstlerin in ihrer Installation auf. Die Vorlage für den großformatigen Wandteppich war ein Pressefoto, das während der Ausstellung von Goshka Macuga in der Londoner Whitechapel Gallery im Jahr 2009 aufgenommen wurde. Prinz William hielt damals eine Pressekonferenz im Ausstellungsraum. Macuga entschied sich, dieses Ereignis in Form eines Wandteppichs festzuhalten, auch um eine kritische Selbstreflexion ihrer eigenen künstlerischen Strategie zum Ausdruck zu bringen. Sie demonstriert, wie leicht ein Kunstwerk politisch vereinnahmt werden kann, auch als Repräsentation von Macht. Vor der Teppichreplik ist ein runder Konferenztisch positioniert, der als diskursives Podium dient. Eingeladen sind Gruppen und Initiativen, deren Werte im Einklang mit der Ethik der Kunstinstallation und ihrem Engagement für den Weltfrieden stehen. Der Ausstellungsraum wird dabei zu einem aktivierbaren, diskursfördernden Versammlungsort, der den Austausch von Ideen und Perspektiven zu Fragen von Frieden, Gewalt und globaler Gerechtigkeit ermöglicht.

 

Vor der Teppichreplik ist ein runder Konferenztisch positioniert, der als diskursives Podium dient. Eingeladen sind Gruppen und Initiativen, deren Werte im Einklang mit der Ethik der Kunstinstallation und ihrem Engagement für den Weltfrieden stehen. Der Ausstellungsraum wird dabei zu einem aktivierbaren, diskursfördernden Versammlungsort, der den Austausch von Ideen und Perspektiven zu Fragen von Frieden, Gewalt und globaler Gerechtigkeit ermöglicht.

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Daniela Ortiz

ABC of Racist Europe, 2017

Farbdruck, digitale Collage, Buch: 21 x 21 cm, Buchstabe: 30 x 30 cm. Courtesy der Künstlerin
 

Daniela Ortiz’ ABC of Racist Europe ist eine kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Kolonialgeschichte, (institutionellem) Rassismus und den fortbestehenden postkolonialen Strukturen in Europa. Das Buch untersucht die Verbindungen zwischen dem heutigen Migrationskontrollsystem und dem Kolonialismus, indem es Begriffe neu interpretiert und in einen kritischen Kontext setzt. Durch die einzelnen Buchstaben des Alphabets werden Geschichten und Mechanismen von Unterdrückung, Diskriminierung und Widerstand erzählt und visualisiert. Die Gestaltung und Illustrationen, die bewusst die Form eines Kinderbuchs aufgreifen, dienen als provokatives künstlerisches Mittel, um die systemische Gewalt und die historische Verdrängung, die Europa in Bezug auf Kolonialismus und Rassismus prägen, eindrücklich zu verdeutlichen.

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Ahmet Öğüt

Monuments of the Disclosed, 2022

Sammlung von 9 digitalen Denkmälern, die historischen Whistleblower*innen gewidmet sind: Bunnatine (Bunny) Greenhouse, Marsha Coleman-Adebayo, Marlene Garcia-Esperat, Mona Hanna-Attisha, Kimberly Young- McLear, Philip Saviano, Karen Silkwood, Aaron Swartz, Li Wenliang. In Auftrag gegeben von Artwrld
Courtesy des Künstlers

 

Inspiriert von den mutigen Handlungen zahlreicher „truth-tellers“ schuf Ahmet Öğüt in Zusammenarbeit mit Artwrld die Monuments of the Disclosed – eine NFT-Serie digitaler Denkmäler für Whistleblower*innen. Diese Personen, die sich oft unter großen persönlichen Opfern gegen Systeme der Macht gestellt und Ungerechtigkeit, Betrug und Missbrauch aufgedeckt haben, bleiben in der Regel ungewürdigt.


Die Frage, wer mit einem Denkmal geehrt werden sollte und warum, zieht sich durch die gesamte Geschichte, und die Antworten darauf variieren je nach geografischem und historischem Kontext. Öğüt entwickelt diese Denkmäler im digitalen Raum. Sie sind durch das Scannen eines QR-Codes zugänglich, sodass sie in erweiterter Realität über mobile Geräte betrachtet werden können. In dieser digitalen Sphäre schweben die Büsten der Whistleblower*innen über ihren Sockeln – fragil im Kontrast zu den stabilen Denkmälern, die wir aus dem Alltag kennen. Jedes Denkmal ist einer Person gewidmet, die sich gegen ein übermächtiges System erhoben hat.


Mit seiner multidisziplinären und konzeptionellen Praxis stellt Ahmet Öğüt unsere Wahrnehmungen sowie Sichtweisen auf Denkmäler und Heldentum infrage. Kritik und Humor verbinden sich in seinen Werken zu einer kraftvollen Reflexion über menschlichen Mut und Widerstand. In der im Kunsthaus gezeigten Installation sind die Monuments of the Disclosed in Form von Schatten im gesamten Gebäude präsent. Manchmal sind sie nicht sichtbar, doch ihre unsichtbare Präsenz zeugt vom anhaltenden menschlichen Mut und dem unerschütterlichen Glauben an die Menschlichkeit.


Um die Monuments of the Disclosed zu betrachten, scannen Sie mit Ihrem Handy die QR-Codes.

Monuments of the Disclosed

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Erkan Özgen

Wonderland, 2016 Ein-Kanal-Video

Ein-Kanal-Video (Farbe, Ton), 3:54 Min. Courtesy des Künstlers

 

In vielen seiner Werke setzt sich Erkan Özgen intensiv mit der Migrationskrise auseinander, die er als eine der größten humanitären Notsituationen unserer Zeit begreift. Er gibt den Menschen, denen er begegnet und die manchmal auch zu Freund*innen werden, und ihren Geschichten eine Stimme. Diese Herangehensweise ist äußerst intim und sensibel, wobei das tiefe Vertrauen spürbar wird, das der Künstler zu den Menschen oder Gemeinschaften, mit denen er arbeitet, aufgebaut hat.


Seine Arbeit Wonderland beleuchtet die Geschichte des 13-jährigen Muhammed, der extreme Gewalt erlebt hat. Muhammed und seine Familie flohen aus der syrischen Stadt Kobanê, die im Januar 2015 stark von ISIS belagert wurde. Auf ihrer Flucht überquerten sie die türkische Grenze und fanden Zuflucht in Derik im Südosten der Türkei, der Heimatstadt von Erkan Özgen. Dort lernte der Künstler den Jungen kennen. Muhammed ist gehörlos und kommuniziert ausschließlich durch Gestik. In enger Zusammenarbeit mit Muhammeds Familie zeichnete Özgen dessen Erlebnisse auf.


Wonderland thematisiert die Grenzen der Sprache und stellt die Frage, ob Worte ausreichen können, um Erfahrungen auszudrücken, die uns fremd sind – insbesondere traumatische Erlebnisse von Krieg und Leid. Das Werk vermittelt dadurch eine tiefgreifende Botschaft gegen Krieg und Gewalt.

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Hannes Priesch

How to March, 2024

Video, ca. 22 min, Metallgitter, organisches Material


How to March ist eine Collage aus militärischen und staatlichen Darstellungen der Massenästhetik, die durch Organisation, Synchronisation und Kontrolle einzelner Körper vermittelt wird. Das Ideal in einem totalitären Staat ist immer eine homogene und unterwürfige Masse, die kontrolliert und manipuliert werden kann, sie repräsentiert den Kampf gegen das Chaos. Staatsparaden und Militärmärsche sind eine direkte Manifestation dieses Wunsches.


Hannes Priesch beschäftigt sich intensiv mit dem Thema „Wir“: wie das „Wir“ gebildet wird, aber auch wie es durch verschiedene Rituale und Zeremonien aufrechterhalten wird. In vielen seiner früheren Arbeiten untersuchte er die marschierenden und versammelten Körper, Insignien und Kostüme bei den Paraden und Treffen der Marschkapellen durch eine fast ethnografische Linse.

How to March

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Monira al Qadiri

Crude Eye, 2022

Ein-Kanal-Video, Ton, 10 min. In Auftrag gegeben von Blaffer Art Museum and the Cynthia Woods Mitchell Center for the Arts at the University of Houston. Courtesy der Künstlerin


Dieser traumähnliche Film vermischt Realität mit spekulativer Erinnerung. Ist das, was man im Video sieht, echt oder doch künstl(er)i(s)che Fantasie? Der absorbierenden Kameraführung folgend bewegt man sich als Betrachter*in durch eine nächtlich leuchtende Industriearchitektur, während eine eindringliche Erzählerinnenstimme ein Gedicht rezitiert.


Crude Eye greift auf die Kindheitserinnerungen der Künstlerin zurück, die in Kuwait in der Nähe einer Ölraffinerie aufgewachsen ist und damals im Vorbeifahren Geschichten für die Industriestrukturen in der Ferne erfunden hat: über eine Metropole voll Lichter, Feuer, Rauch und Türmen, „gefüllt mit Wesen und Phantomen aus einer anderen Welt“. Kuwait ist ein relativ „junges“ Epizentrum der Erdölförderung und -raffination. Im Film macht Monira al Qadiri aus ihrer kindlichen Vision über die ferne Landschaft eine glimmende Topographie eines magischen Königreiches, das gleichzeitig etwas Bedrohliches hat. Da das Filmen in Ölraffinerien strengstens verboten ist, baute die Künstlerin in ihrem Studio ein Miniaturmodell, das sie für diesen Film abfilmte, und mit Gedichtzeilen über einen morbid-mystischen Ort ergänzte.


Monira al Quadiri macht die soziale und politische Geschichte der Erdölförderung und der Energieabhängigkeit regelmäßig zum Thema ihrer Arbeit. Die ästhetische Sprache, die sie verwendet, ist verführerisch und bindet uns in eine Beziehung mit ein, die die grausame Schönheit des Erdöls offenbart – das auch als Symbol der Macht gelesen werden kann. Der Film ist ein künstlerischer Versuch, „ein Gefühl kindlichen Staunens mit der giftigen Umweltzerstörung, die die Raffinerie darstellt, in Einklang zu bringen.“ (Monira al Qadiri)

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Zanny Begg und Oliver Ressler

Anubumin, 2017

HD-Video, 18 Min. Courtesy der Künstler*innen


Die Videoarbeit zeigt poetische Bilder der pazifischen Insel Nauru, die etwa 10.000 Einwohner*innen zählt, und verbindet diese mit Aussagen australischer Whistleblower*innen. In einem interviewähnlichen Format reflektieren diese über Lücken und fehlende Kapitel, die sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart der Insel und ihrer Bewohner*innen prägen. Der Titel des Werks bedeutet „Nacht“ in der Sprache von Nauru und verweist auf die metaphorische Dunkelheit, die mit der Vergangenheit und Gegenwart der Insel verknüpft ist.


Bis 1980 wurde auf Nauru Phosphat abgebaut und nach Australien exportiert, was weite Teile der Insel unbewohnbar und unfruchtbar machte. In den 1990er-Jahren wurde Nauru zu einem Zentrum der Geldwäsche. Heute befindet sich dort ein australisches Offshore-Flüchtlingslager, das aufgrund der schlechten Bedingungen immer wieder international kritisiert wurde. Der Zugang zur Insel ist stark reguliert und begrenzt, um die Kontrolle über die Berichterstattung und Einblicke in das Lager zu behalten. Eine weitere aktuelle Bedrohung für Nauru ist der stetig steigende Meeresspiegel, der die Insel und ihre Zukunft gefährdet.


Zanny Begg und Oliver Ressler entwerfen in ihrem Video ein dystopisches Bild eines Ortes, an dem die Menschlichkeit an ihre Grenzen stößt. Vier Whistleblower*innen – Ärzte und Krankenschwestern, die in der Offshore-Haftanstalt gearbeitet haben – berichten von den institutionalisierten Menschenrechtsverletzungen, die dort tagtäglich stattfinden. Die Haftanstalt wird zum Symbol für die Entmenschlichung der heutigen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlinge. Zugleich werfen Begg und Ressler die beunruhigende Frage auf, ob jene Menschen, die heute die Flüchtlinge bewachen, möglicherweise selbst die Klimaflüchtlinge von morgen sein könnten.

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Anna Zvyagnitseva

The Cage, 2010

Textilobjekt, 190 cm x 220 cm x 90 cm. Courtesy Collection M HKA / Collection Flemish Community


The Cage ist eine gestrickte Struktur aus Stoff, in den Maßen eines Standardkäfigs, wie er für Angeklagte in ukrainischen Gerichtssälen verwendet wird. Die Künstlerin schuf das Werk 2010 als Reaktion auf den politischen Missbrauch des ukrainischen Rechtssystems und die strafrechtliche Verfolgung von drei Mitgliedern von Hudrada – einer Kurator*innengruppe, der sie ebenfalls angehört – wegen ihres sozialen Aktivismus.


Die Interpretationen von Zvyagnitsevas Arbeit verschieben sich mit den Entwicklungen in der Ukraine, einem Land, das sich seit 2014 in einem fast permanenten Konfliktzustand befindet, der 2022 eskalierte. Waren die gestrickten Stangen des Käfigs 2010 eine Metapher für die verlorenen Stunden und gestohlene Zeit eines korrumpierbaren Rechtssystems, für Angeklagte und öffentliche Vertreter*innen, die Stunden in Gerichtssitzungen verbrachten, um die Arbeit der Justizmaschinerie transparent zu machen, so wird der Käfig heute auch zu einem Symbol für die Widersprüche zwischen Freiheit und Repression, Stärke und Zerbrechlichkeit. Das bewusst gewählte fragile Material und die feministische Geste des Strickens unterstreichen die zunehmende Fragilität uns umgebender Rechtsstrukturen und demokratischer Systeme mit der Aufforderung, die Idee der Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen und zu schützen.

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Lukas Marxt

Fat Man 1:1, 2023

Skulpturale Installation: Styropor, Glasfaser, Ordner, gefundene Teile einer Fat-Man-Bombenattrappe und eine zusammengebaute, maßstabsgetreue 1:12-Replik von Fat Man, vergrößerter 24-teiliger Bausatz der auf Nagaski abgeworfenen Atombombe. Courtesy des Künstlers


Die menschliche Faszination für Zerstörung und die Instrumente der Gewalt sind vielschichtig und umstritten. Objekte, die Macht und Gewalt symbolisieren, üben oft eine besondere Anziehungskraft aus und werden nicht nur aus pädagogischen Gründen gesammelt, sondern auch aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung. Waffen und Zerstörungswerkzeuge sind aufgrund ihrer speziellen symbolischen Kraft oft Gegenstand von Bewunderung und Sehnsüchten.


Lukas Marxt hat sieben Jahre lang den Salton Sea und die umliegenden Gebiete in Südkalifornien erforscht – einen Ort, an dem während des Zweiten Weltkriegs Atombomben getestet wurden. In seinem Werk verknüpft er Fragen zur Ausbeutung der Natur, menschlicher Gewalt mit Geschichte. Das daraus entstandene umfangreiche Projekt umfasst Videomaterial, Objekte und Archivdokumente.


Fat Man 1:1 ist ein Teil dieses forschungsbasierten Werks und zeigt ein vergrößertes Modell der Atombombe, die 1945 auf Nagasaki abgeworfen wurde. Das Modell basiert jedoch nicht auf der realen Bombe, sondern auf einem militärischen Erinnerungsstück, das aus durchgesickerten Informationen und Spekulationen entstand. Es wurde von John Coster-Mullen – einem Atombombenarchäologen, Industriefotografen und LKW-Fahrer – rekonstruiert, der durch seine Forschungen eine öffentliche Aufzeichnung der Konstruktion der ersten Atombomben ermöglichte. Marxts Arbeit hinterfragt das kollektive Gedächtnis und die Faszination für die zerstörerische Kraft solcher Waffen.

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Ala Savashevich

Sew on your own, 2022

Kettenhemdschürze, Metallkonstruktion (Stahl), 80 x 25,5 x 40 cm. Courtesy der Künstlerin & eastcontemporary, Mailand


Der menschliche Körper, insbesondere der weibliche, war und ist immer noch oft Gegenstand von Disziplinierungsmaßnahmen und wird dem Gehorsam unterworfen. Mode und Kleidung spiegeln dies gut wider, insbesondere weibliche Uniformen. Die Arbeit Sew on your own greift die persönlichen Erfahrungen der Künstlerin und ihre Ausbildung in einer weißrussischen Schule auf, wo Mädchen noch gelehrt wurden, Hausarbeit zu machen, zu nähen, Kunsthandwerk und Ornamente herzustellen.


Ala Savashevich interessiert sich sowohl für die Schutzfunktion von Kleidung als auch für deren Rolle als Instrument der Unterdrückung. In ihrer Praxis greift sie die Themen kollektives Gedächtnis und Identitätsbildung auf, insbesondere Geschlechterrollen in sozialen Systemen mit der Erfahrung autoritärer Herrschaft. Schürzen (weiß für festliche Anlässe, schwarz für den täglichen Gebrauch) waren ein fester Bestandteil der sowjetischen Schuluniform. Sie wurden nach einem einheitlichen Muster gefertigt und hatten eine besondere Funktion: Sie sollten Sauberkeit und Fleiß symbolisieren. Die förmliche, gestärkte, weiße Version sollte die Fügsamkeit und Hilfsbereitschaft der Schülerinnen unterstreichen, die sie trugen.


Die aus Tausenden von geflochtenen Metallteilen handgefertigte Schürze steht für die erdrückende Last des von der Gesellschaft auferlegten „Bildes der Weiblichkeit“. Sie ist aber auch ein Symbol des Widerstands gegen eine gewalttätige, patriarchale „Normalität“, die vielerorts in sozialen Institutionen wie der Familie oder der Schule vorherrscht.