Ai Weiwei hat bereits in seiner New Yorker Zeit (1983-93) fotografiert, vor allem aber seit seiner Rückkehr nach Peking unablässig die alltäglichen, städtebaulichen und gesellschaftlichen Realitäten in China dokumentiert und über Blogs und Twitter diskutiert. Die Fotografien des radikalen städtebaulichen Wandels, der Suche nach Erdbeben-Opfern, der Zerstörung seines Shanghai-Studios werden zusammen mit den kunstfotografischen Projekten, dem documenta-Projekt Fairytale, den unzähligen Blog- und Handy-Fotografien vorgestellt. Ein umfangreiches Material- und Archivbuch begleitet die Ausstellung.
Ai Weiwei ist ein generalistischer, konzeptueller, gesellschaftskritischer Künstler, verschrieben der Reibung mit und der Gestaltung von Realitäten. Er ist als Architekt, Konzeptkünstler, Bildhauer, Fotograf, Blogger, Twitterer, Interviewkünstler und politischer Aktivist ein Seismograph für aktuelle Themen und gesellschaftliche Probleme: ein großer Multiplikator und Kommunikator, der das Leben zur Kunst und die Kunst zum Leben führt.
Ai Weiwei setzt sich bewusst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und in der Welt auseinander – mittels fotografischer Dokumentationen des architektonischen Kahlschlags von Peking im Zeichen des Fortschritts, mit provokativ erscheinenden Vermessungen der Welt, seinen persönlichen Standortbestimmungen in Study of Perspective, mit radikalen Schnitten an der Vergangenheit (Teilungen und Neuzusammenfügungen von vorgefundenen Möbelstücken), um für die Gegenwart und Zukunft Möglichkeiten zu schaffen, und mit seinen Zehntausenden von Blogtexten, Blog- und Handy-Fotografien (nebst vielen anderen künstlerischen Stellungnahmen). Dieses erste große Ausstellungs- und Buchprojekt seiner Fotografie- und Videoarbeiten will diese Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Vernetztheit von Ai Weiwei mit Hunderten seiner Fotografien, mit seinen Blogs und mit erläuternden Essays ins Zentrum rücken und thematisieren.
Der Künstler als Netzwerk, als Firma, als Aktivist, als politische Stimme, als soziales Gefäß, als Agent provocateur: Jede Gesellschaft auf dieser Welt braucht zu jeder Zeit, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, singuläre, herausragende Figuren wie Ai Weiwei, um wach zu bleiben, um wach gerüttelt zu werden, um den eigenen Starrsinn zu erkennen und um die eigene Betriebsblindheit vermeiden zu können. Wir sind außerordentlich froh, dass dieser große Denker, Gestalter und Kämpfer am 22. Juni 2011 aus der Haft entlassen wurde. Es ist zu hoffen, dass Ai Weiwei die ihm aufgebürdeten Auflagen bald hinter sich lassen und wieder als starke öffentliche Stimme auftreten kann.
Katalog
Zur Ausstellung erscheint im Steidl Verlag, Göttingen, ein englisch-deutscher Katalog, der in Kooperation mit dem Künstler entwickelt wurde: Ai Weiwei – Interlacing, Hg. Urs Stahel / Daniela Janser, 496 Seiten, ca. 600 Abbildungen, mit Beiträgen von Carol Yinghua Lu, Daniela Janser, Urs Stahel und Philip Tinari. Preis: 39 €